Frankreich im Rüstungsfieber Sarkozy schwingt Weißbuch
30.05.2008, 08:06 UhrFrankreich zieht militärisch einen Schlussstrich unter das 20. Jahrhundert und stellt sich auf schnell wechselnde Gefahrenlagen und eine Umwälzung der globalen Machtverhältnisse ein. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Landesverteidigung und innerer Sicherheit. Präsident Nicolas Sarkozy will als EU-Ratspräsident im zweiten Halbjahr 2008 die Partner beim strategischen Kurswechsel mitziehen und die EU-Sicherheitspolitik stärker integrieren. "Die Mitgliedsländer müssen bei der kollektiven Analyse voranschreiten", sagt Außenminister Bernard Kouchner. Paris wolle "gemeinsame Visionen und Ziele" und "gemeinsame glaubwürdige zivile und militärische Kapazitäten". Verteidigungsminister Herv Morin will dafür im Herbst bei einer "Europatournee" werben.
Frankreichs künftiger Kurs ist in einem Weißbuch über die Streitkräfte festgehalten, das Sarkozy im Nationalen Sicherheitsrat Anfang Juni verabschieden will. Weil die darin angesprochene militärische Integration der EU in Irland umstritten ist, soll das Papier erst nach dem Referendum der Iren am 12. Juni über den EU-Reformvertrag veröffentlicht werden. Doch die Kernaussagen sind bereits bekannt. So will Frankreich nach US-Vorbild ein integriertes Konzept der "nationalen Sicherheit", das die Gefährdung durch Informatikattacken, fanatische Kleingruppen, Hungerrevolten und Kämpfe um Ressourcen in Übersee berücksichtigt. Dabei sollen 10.000 Soldaten zum Einsatz gegen Bedrohungen im Inland abgestellt werden.
Atomare Abschreckung als "Lebensversicherung der Nation"
Dafür, dass über die neuen Risiken die alten nicht vergessen werden, sorgt der französische Stabschef Jean-Louis Georgelin. "Die Geschichte steckt voller strategischer Überraschungen", warnt der General. Angesichts der vielen neuen Groß- und Regionalmächte von China bis Brasilien wird in Paris die Sorge geäußert, die Welt werde morgen aussehen "wie der Balkan 1939". Sarkozy hat bereits die atomare Abschreckung als "Lebensversicherung der Nation" bekräftigt. Den Ausbau der EU-Verteidigung will er mit Frankreichs schrittweiser Vollintegration in die NATO begleiten. Und die Mittelmeer- und Ostpolitik soll die Europäer mit einem schützenden "Ring von Freunden" umgeben.
Das Weißbuch fixiere Frankreichs "Doktrin für die nächsten 15 Jahre", erklärt Verteidigungsminister Morin. Zu den klassischen Aufgaben der Territorialverteidigung wird der Bereich "Kenntnis und Voraussicht" hinzugefügt. Konkret heißt das: Sarkozy erhält einen Geheimdienst-Koordinator zur Seite und die Satellitenaufklärung wird verstärkt.
"Im Dienste einer weltumspannenden Diplomatie"
"Ich will den Streitkräften die Mittel geben, eine Weltmacht im Dienste einer weltumspannenden Diplomatie zu bleiben", sagt Sarkozy. Das Problem: Es darf nichts zusätzlich kosten und schon jetzt fehlen pro Jahr sechs Milliarden Euro für Waffenkäufe. Das Weißbuch sieht daher vor, die Zahl der Panzer, Flugzeuge und Fregatten zu verringern und die Truppen zu verkleinern und neu aufzustellen. Das stößt bei den Militärs nicht auf Begeisterung. "Überall in der Welt steigen die Militärausgaben, nur in Europa nicht", warnt Georgelin. "Man muss die Illusion bekämpfen, dass die Aufklärung die Aktion ersetzen kann."
2008 will Frankreich einen Stützpunkt in Abu Dhabi am Persischen Golf errichten, den 40 Prozent des weltweit gehandelten Erdöls passieren. Dafür sollen die Afrikatruppen auf je eine Basis im Westen (Dakar oder Libreville) und Osten (Dschibuti) reduziert werden. 14.000 Mann dauerhaft in Übersee zu stationieren kommt zu teuer. Das Heer soll künftig statt 50.000 nur 30.000 Soldaten für schwere Konflikte im Ausland bereithalten, plus 5000 Mann für punktuelle Einsätze. Dafür setzt Paris auf mehr europäische Kooperation wie im Tschad.
Die Flotte der Atombomber will Sarkozy von 60 Mirage 2000N auf 40 Rafale verkleinern. Bei der Weißbuch-Debatte war sogar erwogen worden, die Bomber ganz zugunsten der strategischen U-Boote abzuschaffen. Die Luftwaffe soll sich mit 70 statt 100 Kampfjets für Interventionen begnügen und 15 von 35 Fliegerhorsten schließen. Und die Marine soll auf geplante Fregatten verzichten. Der gemeinsam mit den Briten geplante zweite Flugzeugträger wird wohl auf Eis gelegt. Sarkozy soll das alleine entscheiden. Doch er meint, das habe "Zeit bis um 2011, 2012". Auch sonst beansprucht der Präsident das letzte Wort für sich. Die Opposition hatte deshalb ihre Mitarbeit an dem Weißbuch eingestellt und von einer "Parodie der Abstimmung" gesprochen, weil bei der Formulierung der Strategie nur Sarkozys "einseitige Entscheidungen" abgenickt werden dürften.
Von Hans-Hermann Nikolei, dpa
Quelle: ntv.de