Kritiker zweifeln an Vorbildfunktion US-Kirche zeigt Reue und zahlt
17.03.2010, 11:17 UhrEuropa blickt hilfesuchend über den Atlantik: 374.408.554 Dollar zahlte die US-Kirche 2008 an Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester. Die Praxis schützt Täter oft vor Strafverfolgung.

Missbrauchsskandale hatte die US-Kirche vor knapp zehn Jahren in ihre tiefste Krise geführt.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Der Rechenschaftsbericht der katholischen Bischöfe in den USA fasst die Dimension des Problems in nüchterne Zahlen. Exakt 374.408.554 Dollar zahlte die US-Kirche allein im Jahr 2008 an Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester. Der Jahresbericht führt zudem rund 35,2 Millionen Dollar Anwaltskosten, 7,9 Millionen Dollar Therapiekosten für die Opfer und 14,2 Millionen Dollar zur Hilfe für die Täter an. Die Kirche zeigt Reue und zahlt: Bei der Aufarbeitung von Kindesmissbrauch ist die US-Kirche jener in Deutschland um Jahre voraus. Kritiker freilich warnen davor, die US-Katholiken als Vorbild für Deutschland zu nehmen.
In ihrer Ratlosigkeit über die immer neuen Enthüllungen blickt die katholische Kirche in Europa hilfesuchend über den Atlantik. Eine Häufung von Missbrauchsskandalen hatte die US-Kirche vor knapp zehn Jahren in ihre tiefste Krise geführt, seit den 60-er Jahren waren einer Untersuchung zufolge 14.000 Menschen von bis zu 5000 Priestern missbraucht worden. Die Kirche verschärfte als Reaktion ihr internes Vorgehen gegen pädophile Priester, die sie lange durch Vertuschung geschützt hatte. Millionenschwere Entschädigungen an die Opfer führten in der Folge ganze Diözesen in den Bankrott.
Lehren für Europa
Das Beispiel der katholischen Kirche in den USA hält nach Einschätzung des römischen Kurienerzbischof Rino Fisichella einige Lehren für Europa bereit, wie er der Zeitung "Corriere della Sera" sagte. Er bezog sich dabei auf die "Charta für den Schutz von Kindern und jungen Menschen", ein internes Regelwerk, dem sich die US-Kirche 2002 als Reaktion auf die Skandale unterworfen hat.

Seit 2002 folgt die US-Kirche in Missbrauchsfällen einem internen Regelwerk.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Die Charta sieht bei begründeten Verdachtsfällen den sofortigen Abzug von Geistlichen aus dem Priesteramt vor. Anschuldigungen müssen kirchenintern geprüft werden. Eine Versetzung nachweislich pädophiler Priester in andere Gemeinden ist verboten. Die Biografien von Priestern, Priesteranwärtern und Kirchenmitarbeitern müssen auf einschlägige Vergehen in der Vergangenheit geprüft werden. Priester, Kinder und Kirchenmitarbeiter sollen in Lehrgängen für das Thema Missbrauch sensibilisiert werden - 1,8 Millionen Mitarbeiter haben diese Lehrgänge bis Ende 2008 durchlaufen.
Kritik an kircheninterner Regelung
Kritiker in den USA - unter ihnen viele Missbrauchsopfer - sehen freilich einen entscheidenden Schwachpunkt: Der Umgang mit Kinderschändern werde weiterhin kirchenintern geregelt, Täter würden vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt. "Sexualtaten an Kindern sind ein Verbrechen und keine Kirchenangelegenheit", kritisiert David Clohessy von SNAP (Survivors' Network of those Abused by Priests), dem größten US-Verband von kirchlichen Missbrauchsopfern. "Wir raten der deutschen Justiz dringend, Mut zu zeigen und zu ermitteln, anstatt die Angelegenheit in den Händen der katholischen Amtsträger zu belassen."
In der Tat bietet die Charta der US-Kirche einen gewissen Spielraum zum Schutz der Täter. Für kirchenintern enttarnte Täter sieht die Charta "ein Leben des Gebets und der Buße" vor, nicht aber den zwingenden Ausschluss aus dem Kirchendienst. Täter werden nur angehalten, kein Priestergewand mehr zu tragen und sich nicht öffentlich als Priester zu erkennen zu geben. Was die Einschaltung der Strafjustiz angeht, rät die Charta den Diözesen, sich an örtliches Recht halten. Dieses sieht bei Missbrauch aber keine Anzeigepflicht vor, die wenigsten Priester landen also vor Gericht.
Die Praxis der Geldzahlungen an Opfer schützt Priester ebenfalls vor Strafverfolgung, da es sich dabei meist um außergerichtliche Vergleiche handelt. "Man darf sich da nicht täuschen lassen: Das ist nur Kosmetik, das sind keine Reformen", sagt SNAP-Sprecherin Barbara Dorris. "Keine Institution kann als Richter ihrer selbst auftreten, und den Bischöfen fehlt es hier an Ansporn und Integrität." Nur eine unabhängige Untersuchung und Verfolgung von außen sichere wirkliche Aufklärung.
Quelle: ntv.de, Peter Wütherich, AFP