Dossier

Interview mit Antje Vollmer Verdrängtes Leid der Heimkinder

Der Runde Tisch zum Schicksal Tausender Heimkinder im Nachkriegsdeutschland trifft sich an diesem Dienstag zum ersten Mal. Er ist auf zwei Jahre angelegt. Moderiert wird er von der ehemaligen Vizepräsidentin des Bundestags, der Grünen-Politikerin Antje Vollmer.

n-tv.de: Was die ehemaligen Heimkinder vor dem Petitionsausschuss vorgetragen haben, ist kaum zu glauben: Sie berichten von Misshandlungen, Missbrauch und Zwangsarbeit. Wie wird der Runde Tisch mit den Betroffenen umgehen; wie viele Heimkinder werden Gelegenheit erhalten, ihre Geschichte zu erzählen?

Antje Vollmer: Wir haben mehrere Institutionen an den Tisch geholt, der Verein ehemaliger Heimkinder ist mit drei Repräsentanten vertreten, also mit der höchsten Anzahl. Daneben wird es eine Anlaufstelle für Einzelfälle geben, die ständig in die Arbeit des Runden Tisches eingespeist werden sollen. Das war ein besonderer Wunsch von mir, diese Anlaufstelle wird es schon bald geben.

Sie haben betont, der Runde Tisch sei kein "Tribunal". Aber was den Kindern angetan wurde, ist ein Verbrechen. Es gibt Täter: Heimleiter, Diakonissen, Nonnen, Mitarbeiter von Jugendämtern. Wäre nicht eine Art Tribunal doch hilfreich?

Mit dem Satz "Es ist kein Tribunal" habe ich gemeint, dass es nicht nach der Methode gehen wird: Anklage, Verteidigung, Richterspruch. Der Runde Tisch ist eine gesellschaftliche Institution, die sich gemeinsam an der Erforschung der bitteren Wahrheit beteiligen muss und auch gemeinsam an einer Lösung arbeiten soll.

Sollen verantwortliche Personen benannt werden?

Eine solche Suche wird nicht ganz einfach sein, weil viele dieser Heime heute gar nicht mehr bestehen. Es gab ja schon einmal eine große Debatte über diese "schwarze Pädagogik". Das war in den siebziger Jahren. Damals sind die meisten dieser Heime geschlossen oder gründlich reformiert worden. Daran waren nicht zuletzt viele Achtundsechziger beteiligt, aber auch viele liberale Kräfte in den Jugendämtern. Heute geht es darum, Menschen Gerechtigkeit zukommen zu lassen, die ihr Leben lang traumatisiert waren. Dafür brauchen wir erst einmal die Akten; nicht von allen Heimen sind die Akten noch da. Erst wenn wir den Blick auf die Wahrheit geworfen haben, können wir gucken, ob es eine Möglichkeit gibt, in Einzelfällen oder kollektiv etwas zu tun.

Es gibt diesen vertraulichen Brief von Ursula von der Leyen, in dem sie schreibt, dass die Einrichtung eines "Nationalen Entschädigungsfonds" von Bundestag und Bundesregierung nicht angestrebt werde. Ist das nicht eine Vorwegnahme von Ergebnissen des Runden Tisches?

Ich denke, diese Formulierung wurde inzwischen still zurückgenommen. Wir haben uns auf die Formulierung geeinigt, "nichts ist ausgeschlossen, aber auch nichts garantiert".

Ist es nicht doch eine Brüskierung der Opfer, wenn Entschädigungszahlungen nicht das erklärte Ziel sind?

Mit dieser Frage hat sich der Petitionsausschuss drei Jahre beschäftigt. Er ist zu dem nüchternen Ergebnis gekommen, dass es mit unseren bisherigen Möglichkeiten kein Gesetz gibt, aufgrund dessen eine Entschädigung möglich ist. Darum gehört auch eine Überprüfung der gesetzlichen Regelungen zu den Aufgaben des Runden Tisches. Da braucht man ein Stückchen Geduld.

Das Familienministerium wollte den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge mit der Organisation des Runden Tisches beauftragen - ein Verein, der Teil des Heim-Systems der Nachkriegszeit war. Auch das war eine Brüskierung der ehemaligen Heimkinder.

Die Institution, die das jetzt organisieren soll, ist die AGJ, die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, aber auch der Bundesverband für Erziehungshilfe, AFET, der ursprünglich vom Petitionsausschuss favorisiert worden war, und der Deutsche Verein sind mit jeweils einem Vertreter am Runden Tisch beteiligt. Ich halte wenig davon, einen einzelnen Verein besonders zu brandmarken, und damit alle anderen freizusprechen. Mit Ausnahme des Heimkindervereins haben wir lauter Institutionen eingeladen, deren Vorgänger Verantwortung für diese Heime hatten. Das sind nicht nur Vereine und Träger, das sind auch die Vormundschaftsgerichte, die Aufsichtsbehörden, die kommunalen Spitzenverbände. Sie alle tragen Verantwortung - auch Eltern, die freiwillig diese Art von Heimerziehung für ihre eigenen Kinder beantragt haben. Das ist ja gerade das Schwierige, dass es damals fast so etwas wie einen gesellschaftlichen Willen gab, Kinder, die manchmal nur ganz wenig angeeckt sind, auszuschließen. Ich glaube, das Problem dieses Ausschließens ist die wirkliche Ursache dafür, dass in den Heimen so viel Unkontrolliertes passierte.

Es ist schockierend, zu lesen, was den Kindern angetan wurde.

Bei mir kommen ständig Briefe an, in denen Menschen mir solche Dinge erzählen, Menschen, die nicht in Heimen waren; es gab solche Erfahrungen in Schulklassen, es gab solche Erfahrungen auch in Elternhäusern, in Vereinen. Ich glaube, wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass es damals in dieser unmittelbaren Nachkriegszeit viele Bereiche gab, in denen man mit Kindern nicht umgegangen ist wie mit der Zukunft der Gesellschaft.

Der Runde Tisch wird sich vermutlich auch mit der Frage beschäftigen, ob der Missbrauch von Kindern in den Heimen System hatte oder ob es Einzelfälle waren, Tausende, vielleicht Zehntausende Einzelfälle. Haben Sie schon eine Meinung dazu?

Bei meinem jetzigen Stadium der Kenntnis würde ich mich noch auf keine endgültige Bewertung einlassen.

In Irland entscheidet eine Kommission seit zehn Jahren über Entschädigungszahlungen im Einzelfall, was deutlich länger ist als ursprünglich erwartet wurde. Bei uns soll der Runde Tisch seine Arbeit in zwei Jahren erledigt haben. Wie realistisch ist das?

Ich habe den Wunsch, in zwei Jahren zu einer Lösung zu kommen. Das hängt sehr stark von der Atmosphäre an diesem Runden Tisch ab, ob sie konstruktiv ist. Ich finde, dass wir nicht zehn Jahre warten sollten. Ich stünde auch nicht zehn Jahre zur Verfügung.

Wie kam es dazu, dass Sie die Moderation des Runden Tisches übernommen haben?

Ich habe mich nicht beworben, ich bin parteiübergreifend vom Petitionsausschuss gebeten worden, das zu moderieren. Ich bin zwar studierte Diplom-Pädagogin und habe mich sogar in den siebziger Jahren einmal erfolglos um eine Erziehungsleitung in einem solchen Heim beworben. Aber ich glaube, das wusste der Petitionsausschuss nicht, als er mich gefragt hat.

Quelle: ntv.de, Mit Antje Vollmer sprach Hubertus Volmer

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