Zwischenruf Deutsche Verhältnisse
19.01.2009, 08:46 UhrDie hessischen Verhältnisse sind beendet, sagt der alte und neue Ministerpräsident. Er hat Recht, wie immer aber nur zum Teil. Roland Koch kann mit einer komfortablen schwarz-gelben Mehrheit regieren. Aber gewonnen haben CDU und FDP bei einer Wahlbeteiligung von 61 Prozent, die niedrigste in der Geschichte des Bundeslandes. Das ist beängstigend, geht der Trend doch auch in anderen Ländern und im Bund, von Europa ganz zu schweigen, seit Jahren beständig nach unten. Immer weniger Bürger empfinden sich als Citoyen, als mündiger und mitgestaltender Bürger, worauf auch der renommierte Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge am Abend bei n-tv verwies. Manch Fürwitziger zieht daraus den Schluss, die parlamentarische Demokratie habe sich überlebt. Hat sie nicht, weil zunächst keine glaubhafte Alternative existiert, die das differenzierte Meinungsspektrum der Bürgerinnen und Bürger widerspiegelt und um einen Interessenausgleich bemüht ist. Aber es gilt, die Demokratie so mit Leben zu erfüllen, dass sich ein möglichst großer Teil des Demos täglich in der Demokratie wieder findet.
Die CDU hat’s erneut geschafft. Ob sich Roland Koch mit seinen vielen, nennen wir’s nett Unglaubwürdigkeiten und ausländerunfreundlichen Äußerungen, dafür einen Lorbeerkranz aufs Haupt stülpen darf, ist fraglich. Die Mehrheit der christdemokratischen Wählerinnen und Wähler votierte für die Unionspartei, weil sie ihr in der Krise die größte Kompetenz für die Bewältigung derselben zutraut. Eigentlich unverständlich, denn es war nicht zuletzt die CDU, die durch ihre neoliberale Politik zur Krise beigetragen hat. Zudem ist nicht die Hessen-Union für die Deutschland-Wirtschaftspolitik zuständig, sondern die Merkel-CDU.
Der Stimmenzuwachs für die FDP hat deren Bundeschef Guido Westerwelle glücklicherweise nicht zu 18-Prozent-Höhenflügen la Möllemann selig veranlasst. Die Liberalen haben von rechtssozialdemokratischen Wählerinnen und Wählern profitiert, weniger von der CDU. Sehr wahrscheinlich gibt es doch so etwas wie eine Mitte, nur dass sie die Sozialdemokraten sie nicht dauerhaft an sich binden können.
Weil sich die älteste deutsche Partei seit dem November vor neunzig Jahren nicht für das Eine oder das Andere entschieden hat. Das Wahldesaster der SPD ist mithin nicht auf das Versagen von Andrea Ypsilanti, sondern auf das Dauerdilemma ihrer Partei zurückzuführen-.
Die Grünen, die im Wahlkampf schlauerweis’ auf die Betonung ihres ostdeutschen Appendix’ „Bündnis ‚90“verzichteten, haben bei der SPD abgesahnt. Dauerhaft dazu gewonnen haben sie nicht.
Die klitzekleinen Gewinne der LINKEN sind erstaunlich, weil die für Westlinke so typischen Streitigkeiten keinen Einfluss auf das Votum hatten. Summa summarum hat sich mit dem Wahlgang der Hessen das Fünfparteiensystem in der Bundesrepublik etabliert.
Insofern sind die hessischen Verhältnisse noch nicht beendet. Sie sind deutsche Verhältnisse.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de