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Zwischenruf Gesprächsoffensive wäre besser

Die afghanische Armee und die NATO-geführte ISAF-Truppe haben eine Großoffensive gegen die Taliban begonnen. Die wievielte eigentlich? Anlass ist die Erstürmung eines Gefängnisses in der Südmetropole Kandahar durch die Steinzeitislamisten, bei der Hunderten ihrer Sympathisanten und zahlreichen gewöhnlichen Kriminellen die Flucht gelang. Mit dem Überfall hatten die Taliban die Regierung und ihre ausländische Schutztruppe in bislang beispielloser Weise vorgeführt.

Dazu haben sich die selbsternannten "Gotteskrieger" in ihren Rückzugsgebieten auf pakistanischer Seite komfortable Ausgangsbedingungen verschafft. Mehrere Taliban-Gruppen schlossen Waffestillstandsvereinbarungen mit der Armee des Nachbarlandes. Zugleich bekräftigen sie, ihren Dschihad gegen ISAF und Präsident Hamid Karsai weiterführen zu wollen. Da mutet dessen Ankündigung, nötigenfalls auch Stellungen der Taliban in Pakistan anzugreifen, an wie der Aufruf zu einem Selbstmordkommando. Die pakistanische Armee ist keine kurdische Guerillabewegung im Nordirak, die man mit Billigung der Vereinigten Staaten immer wieder einmal angreift. Pakistan ist Atommacht. Hinzu kommt, dass die wiederholten blutigen Angriffe der US-Armee auf pakistanisches Hoheitsgebiet zu einer Verschärfung der Beziehungen zwischen Islamabad und Washington geführt haben.

Die Lage in Afghanistan ist gut siebeneinhalb Jahre nach dem Einmarsch der USA und ihrer Alliierten dramatischer denn je. Der Drogenhandel blüht wie nie zuvor, die soziale Lage der Menschen hat sich nicht verbessert. Von Leuchttürmen abgesehen gibt es keinen Fortschritt bei der Demokratisierung. Innenpolitisch kann sich Karsai nur halten, weil er sich auf Warlords stützt, die vielfach ebensoviel Dreck am Stecken haben wie ihre Gegner. Selbst sein Spotttitel "Herr des eigenen Stuhles" stimmt nicht mehr so richtig seit der Attacke auf ihn mitten in Kabul Ende April. Im nächsten Jahr finden Präsidentenwahlen statt; vielleicht übergibt er seinen Stuhl an einen anderen. Das Problem wird damit nicht gelöst.

Auch die Entsendung von immer mehr Soldaten, wie jüngst im Falle Frankreichs und Großbritanniens, nützt wenig. Auch hierzulande liebäugelt bekanntlich so mancher damit, noch mehr Bundeswehrangehörige an den Hindukusch zu schicken. Die Milliarden, die Afghanistan auf der letzten Geberkonferenz in Paris versprochen wurden, können lediglich dazu beitragen, die wenigen Leuchttürme der Demokratie nicht einstürzen zu lassen. Auch die Milliarden, die schon geflossen sind, haben nicht zum unerlässlichen Strukturwandel in der Wirtschaft geführt. Rund 40 Prozent der Hilfsgelder verschwinden ohnehin in den Payraan Tumbaans von Langfingern inner- und außerhalb von Regierung und Beamtenapparat.

Über kurz oder lang wird es zu Verhandlungen mit den Taliban und den anderen bewaffneten Kräften der Opposition kommen, auch wenn heuer kaum jemand offiziell davon sprechen mag. Dies war im Falle von Israel und Hamas auch so. Die bittere Wahrheit: Am Ende werden die fundamentalistischen Kräfte zu Partnern, die gestärkt aus den Auseinandersetzungen hervorgehen. Auf der Strecke bleiben Demokratie und Wohlstand. Besser wäre es gewesen, statt der Militär- eine Gesprächsoffensive zu beginnen.

Quelle: ntv.de

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