Zwischenruf Günter Grass' einseitiges Gedicht
04.04.2012, 18:02 Uhr
Grass hat in einem in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlichten Gedicht die israelische Politik gegenüber dem Iran heftig kritisiert.
(Foto: dpa)
Grass' Iran-Israel-Gedicht gerät zur einseitigen Parteinahme. Es ist nachvollziehbar, wenn Israel alles für seine Sicherheit unternimmt. Einen Präventivkrieg aber darf nicht sein. Übrigens: Laut Altem Testament können eine Jüdin und ein Perser sogar recht glücklich miteinander werden.
Die Meldungen über das Streben des Iran nach Atomwaffen lesen sich fast wie Gabriel García Márquez' "Crónica de una muerte anunciada". Fast. Das ganze Dorf weiß, dass ein Mann umgebracht werden soll, keiner unternimmt etwas dagegen. Am Ende tritt der angekündigte Tod ein. Im Unterschied zur Geschichte des großen kolumbianischen Romanciers gibt es im sogenannten Atomkonflikt mit Teheran viele, die nichts tun und einige, die viel tun wollen.
Der Iran darf nicht in den Besitz von nuklearen Massenvernichtungsmitteln gelangen, weil es das Existenzrecht Israels bestreitet und fordert, das Land von der Landkarte verschwinden zu lassen. Auch die Leugnung des industriellen Massenmords der deutschen Faschisten an den Juden gehört zum Repertoire der religiösen und weltlichen Machthaber des Iran. Ein "Maulheld", wie Günter Grass schreibt, ist Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad nicht. Er ist vielmehr ein selbstverliebter Fanatiker, der in der UN-Vollversammlung schon mal einen Heiligenschein über sich entdeckt. Das macht ihn und seine Entourage gefährlich. Im Iran lebten vor dem Sturz von Schah-in-Schah Reza Pahlewi 1979 gut 100.000 Juden. Heute sind es nur noch 25.000. Die Mehrheit floh ins Ausland. Aus Angst vor Repressalien. Es gehört zu den Widersprüchlichkeiten des Iran, dass qua Gesetz ein jüdischer Bürger des Iran Anrecht auf einen Sitz in der parlamentsähnlichen Madschlis hat.
Grass verharmlost die iranischen Machthaber, der israelischen Regierung wirft er vor, den Weltfrieden zu gefährden. Nun gibt Premier Benjamin Netanjahu auch nicht gerade den Friedensengel. Die Auftritte während seines jüngsten Besuches in den Vereinigten Staaten gerieten zu kaum kaschierten Erpressungsversuchen. Das alttestamentarische Buch Esther (3,1-15) mit dem Bericht über den geplanten Mord der Juden im Persischen Reich zu zitieren, um vor einem Angriff des Iran auf sein Land zu warnen, ist unseriös, um es freundlich auszudrücken: Das Buch gilt der kritischen Exegese als legendenhaft. Belegt ist jedoch, dass die US-Regierung die Bitte des Jüdischen Weltkongresses, die Zufahrtswege zum Vernichtungslager Auschwitz zu bombardieren, 1944 ablehnte.
Nun hinkt der Vergleich der Nazis mit dem Iran. Doch die kollektive Furcht vor einer Wiederholung des Völkermords sitzt tief im Bewusstsein. Alles zu tun, um jegliche Bedrohung von Israel abzuwenden, ist Staatsdoktrin. Das ist nachvollziehbar. Einen Präventivkrieg aber ist durch keine Doktrin zu rechtfertigen. Der einzige Weg zur Lösung des Nah- und Mittelostkonflikts führt über Verhandlungen. Ein Krieg zwischen Staaten in der Region würde eine Kettenreaktion unvorstellbaren Ausmaßes einleiten. Einseitige Schuldzuweisungen wie die in Günter Grass‘ Gedicht sind da wenig hilfreich. Übrigens: Die Jüdin Esther war Frau des Perserkönigs Xerxes. Es waren der Mut und die Offenheit im Gespräch mit dem König, mit denen es ihr gelang, die Vernichtung ihres Volkes zu verhindern (5, 1. 1a-8). Wenn die Lehre beherzigt wird, ist der Vergleich mit García Márquez Meisterwerk eines Tages obsolet.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 das politische Geschehen für n-tv. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist er Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de