Momente politischer Vernunft Hat der Kanzler jetzt endlich verstanden?


Die Regierung scheint etwas zu lernen, spät, aber immerhin.
(Foto: REUTERS)
Es mehren sich die Hinweise, dass die Regierung sieht, wo sie beidrehen muss. 2024 könnte das Jahr des "Geht doch!" werden.
Am Ende eines ziemlich verdrießlichen Jahres 2023 scheint sich ein Trend zu verfestigen, der einen Rest von Hoffnung am Leben hält: Die Bundesregierung, die SPD, der Kanzler - sie scheinen nun doch noch den Knall gehört und verstanden zu haben. Es reihen sich größere und kleinere Momente jener politischen Alltagsvernunft aneinander, die so vollständig verloren schien. "Geht doch!" - könnte man sagen. Und das ist das Beste, worauf man im kommenden Jahr hoffen darf: Dass sich in der breiten Mitte der Gesellschaft nicht der Frust und der Ärger weiterfressen, sondern eine erleichterte Versöhnung mit dem politischen System um sich greift, entlang eben dieses Stoßseufzers: Na, geht doch!
Vorläufig letzter Punkt in dieser kleinen Kette ist die Ankündigung des Arbeits- und Sozialministers Hubertus Heil. Er will sogenannten Totalverweigerern unter den Arbeitslosen das Bürgergeld notfalls auf null zusammenstreichen. Ob das in der Praxis nennenswerte Summen spart oder doch rasch von Gerichten gebremst wird, sei dahingestellt. Es geht um die Haltung, um das Signal.
Gewiss nicht ohne Rücksprache mit dem Bundeskanzler bricht der Minister mit dem Geist des Koalitionsvertrages und mit dem Kurs der SPD. Dort und im später folgenden Gesetz war das Bürgergeld als Überwindung des vermeintlich menschenverachtenden Hartz-IV-Regimes angelegt: Selbst sehr saumseligen Arbeitslosen sollten nicht de facto keine Kürzungen mehr drohen, Weiterbildung des Arbeitslosen sollte Vorrang bekommen vor seiner Vermittlung in eine der mehr als 1,5 Millionen offenen Stellen. Und nach einer Erhöhung des Bürgergelds Anfang 2023 kommt die nächste - um zwölf Prozent - zum 1. Januar.
Mehr Geld, weniger Druck, weniger Orientierung: So ließ sich das Bürgergeld durchaus zusammenfassen. Auf viel Verständnis bei den Beschäftigten, die das mit Abgaben und Steuern zu finanzieren haben, durften SPD und Kanzler zu keinem Zeitpunkt zählen - und genau das scheinen sie jetzt verstanden zu haben. Der Druck wird folglich wieder erhöht und ein spezieller Bonus gestrichen, der jenen Arbeitslosen gezahlt wurde, die sich zu einer Weiterbildung bequemt hatten. Geht doch!
Kraft der Realität schlägt Sturheit der Verantwortlichen
Ähnliche Kehrtwenden in Richtung praktischer Vernunft vollzogen sich in der Zuwanderungs- und Asylpolitik der Ampel-Regierung. Die ukrainischen Kriegsflüchtlinge sollen nun mit deutlich mehr Druck in den deutschen Arbeitsmarkt gebracht werden als bislang. Sie müssen sich ganz einfach viel öfter beim Arbeitsamt melden als bislang - geht doch. Es war für Otto Normalverbraucher nämlich nicht zu verstehen, warum in vergleichbaren Ländern ein viel höherer Anteil von ihnen arbeitet und nicht vom Sozialstaat alimentiert wird. Auch hier revidiert die Bundesregierung einen ursprünglich eingeschlagenen Kurs - die Kraft der Realität ist größer als die Sturheit der Verantwortlichen, endlich.
Zudem sollen möglichst viele beschleunigte Asylverfahren jetzt außerhalb der deutschen Grenzen stattfinden, an der EU-Peripherie. Das könnte durchaus dazu führen, dass im kommenden Jahr nicht noch einmal weit über 300.000 neue Asylsuchende nach Deutschland kommen - und am Ende fast alle auch bleiben, ganz gleich wie ihr Verfahren ausgeht. Sehr vollmundig hat der Kanzler "Abschiebungen im großen Stil" angekündigt. Daraus wird aus vielen Gründen wenig werden, das ahnt man schon jetzt. Die Zahl der Asylsuchenden, die so viel politischen Sprengstoff birgt, wird nur über den Zuzug nach Deutschland ernsthaft zu begrenzen sein, nicht über die Abschiebungen aus Deutschland.
Bodenständige Vernunft ist kein schlechter Ratgeber
Auch hier gilt: Die Haltung ist eine ganz andere, als SPD und Grüne dieser Regierung sich zunächst auf die Fahne geschrieben hatten. Das Ziel, wenigstens das, ist nun wieder die Ausreise all jener, die kein Bleiberecht haben. Und nicht die Suche nach einer Möglichkeit, wie man sie doch bleiben lassen kann. Geht doch! Werden nicht nur in Ostdeutschland viele Bürger denken, die in überlasteten Städten und Gemeinden leben. Warum nicht gleich so?
Ist das jedoch populistisch oder gar AfD-getrieben, weil 2024 mehrere Wahlen anstehen? Vermutlich ist die Antwort eine Frage des eigenen politischen Standpunkts, von dem aus man die Veränderungen betrachtet. Aber nicht von der Hand zu weisen ist: Unter dem Druck der Realität dreht die Regierung bei. Sie scheint etwas zu lernen, spät, aber immerhin. Vor allem scheint sie neuerdings genauer hinzuhören: Bürgerliche, bodenständige Vernunft ist auch für einen sozialdemokratischen Bundeskanzler kein schlechter Ratgeber.
In den Umfragen verhalten sich der Niedergang der SPD und der Aufstieg der AfD seit Monaten wie kommunizierende Röhren. Dem kann man widerstandslos und ohne Haltung einfach beiwohnen. Viel besser jedoch wäre es, wenn die Mitte-Links-Regierung namens Ampel begreift, dass vor allem sie etwas gegen die AfD tun muss, weil sie es kann. Zumindest so lange, wie sie noch regiert. Geht doch!
Quelle: ntv.de