Person der Woche

Person der Woche Christian Lindner wird nun Krallen zeigen

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(Foto: dpa)

Drei desaströse Wahlniederlagen und schlechte Umfragen treiben die FDP um. Wählerschaft wie Parteibasis vermissen Profil und liberale Akzente in der Bundespolitik. Für die Ampelregierung wird es damit ungemütlicher. Die FDP dürfte ihre staatsmännische Rolle als großzügiger Gruppentherapeut ablegen.

Die NRW-Wahl sorgt in Berlin für ein politisches Nachbeben. Die überraschend heftige Wahlniederlage von SPD und FDP erschüttert das Machtgefüge der Ampelregierung. Eine NRW-Wahl ist immer auch eine kleine Bundestagswahl und wenn die Regierenden in Berlin eine derartige Quittung bekommen, dann bedeutet das ein vernichtendes Zwischenzeugnis für das erste Ampel-Halbjahr. Dass sich obendrein mit Schwarz-Grün nun eine neue Siegerkoalition im größten Bundesland formiert, wirkt auf Berlin wie eine Blaupause für die Zukunft. Plötzlich fühlt sich die Ampelkoalition nur noch wie ein zugiger Umsteigebahnhof der Berliner Republik an. Der Anfangszauber des vermeintlich lossurrenden Fortschrittszuges ist dahin, das Bremsquietschen und Gleisrattern zerstrittener Koalitionäre übertönt derzeit vieles.

Noch zu Weihnachten konnte Christian Lindner sich als Gewinner der Koalitionsverhandlungen fühlen.

Noch zu Weihnachten konnte Christian Lindner sich als Gewinner der Koalitionsverhandlungen fühlen.

(Foto: dpa)

In der SPD gerät jetzt nicht nur die schwer angeschlagene Verteidigungsministerin unter zusätzlichen Druck. Vor allem auf den Kanzler selbst wirkt diese Niederlage wie eine Abrissbirne staatsmännischer Fassaden. Plötzlich werden auch aus der SPD heraus seine hermetische Kommunikation, sein emotionsbefreites Zaudern und seine zeitlupenhafte Unentschiedenheit offen kritisiert. Mit Robert Habeck, Annalena Baerbock und Friedrich Merz profilieren sich gleich drei Spitzenpolitiker als gefühlte Ersatzkanzler - weil alle drei verkörpern, was Scholz fehlt: Entschiedenheit und klare Kommunikation.

Für Scholz und seine Ampelkoalition wird es aber auch deshalb ungemütlich, weil einerseits der linke SPD-Flügel dem Kanzler nun nicht mehr so willfährig folgen wird. Insbesondere rund um die Aufrüstungsfrage brechen tiefe Gräben bei den Sozialdemokraten auf. Andererseits ist durch die drei Wahlgänge im Saarland, Schleswig-Holstein und NRW ein Koalitionspartner dreifach und besonders schwer verwundet worden. Die FDP kann unmöglich zur Ampel-Tagesordnung übergehen. Anders als bei der SPD redet der FDP-Vorsitzende Christian Lindner an dem Drama auch nichts schön. Das sei eine "desaströse Niederlage".

Mit der ausgleichenden Gangart dürfte es vorbei sein

Mancher in Berlin unkt bereits, die Liberalen würden nun wie angeschossenes Wild umhertaumeln und die Koalition unkontrolliert destabilisieren. Das dürfte nicht passieren, dafür ist Christian Lindner zu sehr auf sein neues Lieblingsvokabeldoppel ("staatspolitische Verantwortung") konzentriert. Allerdings wird Lindner fortan Profil zeigen müssen - und also ein deutlich ungemütlicherer Regierungspartner sein. Bislang war Lindner wie ein seelenruhiger Gruppentherapeut darauf bedacht, die wilden Gemütsschwankungen der Ampel zu beschwichtigen und das bunte Muskelspiel mit dicken Spendierhosen zusammenzuhalten. Während Habeck und Baerbock lautstark ihr Profil auslebten, setzte Lindner auf Scheckbuch, Kompromiss und Verschwiegenheit. Ausgerechnet er, der lustvolle Klartexter, war im ersten Halbjahr der Om-tönende Yoga-Mediator der Ampel. Seine jetzige Offenbarung ("die Ampelkoalition war nie unser Wunschtraum") kann man daher wie eine Ankündigung lesen, dass es mit der ausgleichenden Gangart vorbei sein wird.

Lindner konnte sich zu Weihnachten noch als Gewinner der Koalitionsverhandlungen fühlen. Doch Habeck und Baerbock wurden hernach zu kommunikativen Siegern des ersten Halbjahres. Nun dürfte die dritte Etappe der Ampel-Liaison anbrechen. Aus der FDP-Spitze ist unisono zu hören, jetzt werde man "das eigene Profil schärfen". Das sei zwar in der Corona-Politik genauso wie in der Finanzpolitik ein Stück weit gelungen. Aber eben nur in der Abwehr von verlängerten Corona-Verboten oder von Steuererhöhungen. Nun müsse man aus der Defensive heraus und eigene Erfolge produzieren (etwa einen Aktionsplan zur Steuervereinfachung) und sich auf härtere Auseinandersetzungen einlassen. Das könnte zum Beispiel die EZB und Christine Lagarde treffen, deren Schuldanteil an der Inflation offensichtlich, aber vom Finanzminister um des lieben Friedens willen noch nicht thematisiert worden ist.

Auch in der Koalition dürfte es ab sofort bei Haushaltsfragen ungemütlich werden. Lindner wird sein vielfach versprochenes Ziel, ab 2023 die Schuldenbremse wieder einzuhalten, wie ein liberaler Löwe erkämpfen. Die Phase des finanzpolitischen Streichelzoos geht zu Ende.

Es wird spannend

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Lindner weiß, dass er viele Wähler auch deswegen jetzt an die CDU verliert, weil dort mit Friedrich Merz ein Wirtschaftsliberaler führt. Umso mehr wird er seine Regierungsmacht einsetzen, sich als Macher sichtbar zu machen. Bislang hat er das Finanzministerium als einen geschmeidigen Hebel zum Machtausgleich zur Verfügung gestellt und vielen Beteiligten Geld verschafft. Fortan dürfte er Krallen zeigen, zumal sein Ressort wegen der Haushaltskompetenz in alle anderen Ministerien hinein regieren kann. Das Grundgesetz gesteht dem Bundesfinanzminister ausdrücklich ein Vetorecht bei allen finanzpolitischen Entscheidungen der Bundesregierung zu, das sogar gegenüber dem Bundeskanzleramt gilt. Auch "überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben" bedürfen nach Artikel 112 der Zustimmung des Finanzministers.

Lindner hat das traumatische Beispiel von Guido Westerwelle im Hinterkopf. Der musste nach nur einer Legislatur die FDP-Implosion vom Rekordergebnis zum Rauswurf aus dem Bundestag verantworten, weil er der Bundespolitik kein liberales Profil verleihen konnte und sich enttäuschte Bürgerliche am Ende wieder hinter der CDU versammelten. Lindner will das unbedingt vermeiden. Die gefühlte Rolle des "freundlichen Opel-Chauffeurs einer rot-grünen Fahrgemeinschaft" (so sieht ihn derzeit die "Wirtschaftswoche") wird er aufgeben und den programmatischen Porsche herausholen müssen. Das wissen auch seine Partner. "Die Liberalen waren bisher erstaunlich brav, das dürfte nun vorbei sein", unkt eine Spitzengrüne bereits. Was aber passiert mit der Regierung, wenn der Gruppentherapeut plötzlich laut wird? Es wird auf jeden Fall spannend.

(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 17. Mai 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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