
Zeitgeistbekämpfung mit Bierkrug, hier noch ohne Unterstützung aus Florida.
(Foto: picture alliance/dpa)
Gegen das kalte Fortschrittsdiktat der Grünen setzt die Union nun auf eine Zeitgeistbremse. Vor allem die CSU scheint ihre platten Parolen von den Besten zu lernen: den Republikanern.
Bundeskanzler Olaf Scholz ist gerade Opfer eines Attentats durch Liebe geworden: Ein Mann folgte der Wagenkolonne und umarmte vor dem Regierungsflieger den Hanseaten. Das ist einigermaßen peinlich für die Sicherheitskräfte, aber, so schlimm die Kuschelei für uns Norddeutsche auch ist, immerhin keine Katastrophe.
Ebenfalls ins Visier geriet Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck: Er bekam ein Tütchen mit - mutmaßlich - Schleifsand zugeschickt, wobei er hier zweifellos der falsche Adressat war: Wenn jemand am Kabinettstisch gerade Zeug sucht, das man ins Getriebe werfen kann, dann doch wohl die FDP.
Nein, nach einer Gewaltwelle oder Sturm auf den Reichstag sieht es derzeit nicht aus, dennoch gärt es ordentlich in Deutschland. Fast die Hälfte der Deutschen wünscht sich inzwischen den Rücktritt des Wirtschaftsministers. Viele Menschen sind befremdet vom mimosig-aggressiven Auftritt der Grünen, ihren rigorosen Klimaplänen und ihrer nonchalanten Postenvergabe. Habecks Desasterwochen haben die progressive Idee eines verordneten Fortschritts bis auf Weiteres vergiftet. Es ist also der perfekte Moment für einen Frontalangriff auf den vermeintlichen Zeitgeist - und den Konservativen ist das nicht entgangen.
"Bekloppt", "woke" - kriminell?
Manche führen ihren Angriff buchstäblich mit vorgehaltener Waffe. Die Waffe, von der hier die Rede ist, hat der Täter sich vollkommen legal beschafft. Er zielte damit auf das Gesicht einer 26-jährigen "woken" Umweltaktivistin, so berichtet es jedenfalls die Überlebende.
Diese 26-Jährige ist Carla Hinrichs, Pressesprecherin der Letzten Generation, einer Gruppierung klimaschutzradikaler Anti-Demokraten, die durch wiederholte Verstöße gegen das Strafrecht folgende Dinge herbeinötigen will: weniger Demokratie, ein Tempolimit und ein billigeres Deutschlandticket. Über ihren Polizistenbesuch berichtet sie in einem inzwischen weithin bekannten Video.
Die LG ist nervig oder - um den Bundeskanzler in einem seiner seltenen Klartextmomente zu zitieren - "bekloppt". Aber welche ihrer Beschäftigungen rechtfertigt, dass man der Pressesprecherin eine Knarre ins Gesicht hält?
Nun agierte die Generalstaatsanwaltschaft in Bayern angeblich ohne den - rechtlich wie politisch sehr gut denkbaren - Wink der Politik, dürfte aber auf rhythmischen Beifall aus Bierzelten und CSU-Stammtischlokalen wenigstens gehofft haben. Der rechtliche Vorwurf an die Letzte Generation: Sie habe Spenden gesammelt für Strafverstöße, sei eine "kriminelle Vereinigung", zudem stünden zwei Mitglieder im Verdacht, die Sabotage einer Pipeline geplant zu haben.
Dass die bayerischen Ermittlungsbehörden mit viel Dienstfreude, ja geradezu Schaumweinlaune zu Werke gingen, zeigte die Beschlagnahme der Webseite "letztegeneration.de". Dorthin hängte die Staatsgewalt nämlich eine astreine Falschinformation.
"Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung § 129 StGB dar!", kofferte es da im Text, als hätte grad Robocop persönlich die Schlafzimmertür von Carla Hinrichs zu Kleinholz geschossen.
Es riecht nach "Eau de Muff"
Dieses Urteil zu fällen, ist freilich Richterangelegenheit. Doch die Unschuldsvermutung ist im tapferen Kampf gegen schrille Twens mit Klebetübchen offenbar eine lässliche Nuance. Am Donnerstag schalteten sich sogar die Vereinten Nationen ein: Klimaaktivisten "müssen geschützt werden, und wir brauchen sie jetzt mehr denn je", ermahnte UN-Generalsekretär António Guterres den Rechtsstaat Deutschland. Cringe!
Dann wiederum: Kann man der Polizei wirklich einen Vorwurf machen? Die Geschmacksrichtung der politischen Attacken aus dem konservativen Winkel ist unverkennbar, es handelt sich oft um "Eau de Muff". Opposition muss beißen und polemisieren, aber so, wie sich insbesondere die CSU gerade aufführt, fragt man sich: Sind das jetzt eigentlich schon diese "amerikanischen Verhältnisse", von denen man wieder so oft hört?
So ließ die Partei den Minister Habeck auf einer Karikatur durchs Fenster in ein seltsamerweise wie in den Fünfzigern eingerichtetes Zimmer lugen. Klar, es geht um "Heizungsspionage", den "Heizpranger", und dann muss es wohl auch drinnen aussehen wie bei "Das Leben der Anderen".
Der CDU-Abgeordnete Mario Voigt vergleicht Robert Habeck geschmackssicher mit der Stasi, weil dieser in einem neuen Gesetz "gebäudescharf" Heizdaten abrufen will - was allerdings, wie kundige Journalisten und, freilich, auch die Bauministerin Klara Geywitz (SPD) schnell ausgruben, längst landesrechtliche Realität ist.
"Der Shitstorm wird nicht vermeidbar sein"
Erst vor wenigen Wochen hatte die CSU offenbar erhöhten Lernbedarf in Sachen Zeitgeistbekämpfung durch stumpfe Botschaften entdeckt: Eine Delegation war auf Studienreise zum Republikaner Ron DeSantis gereist. Das ist ein Politiker, der sich wie sonst nur Donald Trump dem Kampf gegen alles "Woke" verschrieben hat. Kurz nachdem DeSantis einen recht verrutschten Wahlkampfauftakt hingelegt hatte, twitterte Scheuer nun ein Foto dieser Reise. Er ist darauf mit dem Republikaner und einem Bierkrug zu sehen, Dorothee Bär (frühere Digitalstaatsministerin und Unionsfraktionsvize) und CSU-Mann Florian Hahn hatte Scheuer da vorher herausgeschnitten.
Die anstehende Landtagswahl in Bayern setzt damit die Tonlage im Bund: Wir Normalen gegen die "Woke" genannten Progessivisten. Scheuer stampfte bei t-online noch einmal mit dem Fuß auf: "Das mag einige schockieren", freute sich Scheuer dort, aber er teile DeSantis’ Kurs gegen das Zeitgeistige. CSU-Chef Markus Söder kommentierte in dieser Woche, Habecks Pläne zeugten "von einer Abgehobenheit und Distanz zu den normalen Menschen".
Klingt wie: "Deutschland. Aber normal." Fetziger Spruch, stammt allerdings von der AfD. Derzeit bleibt offen, ob die kleine garstige Schwester auch die große vernünftige CDU auf diese Vulgärvariante eines Kulturkampfes einstimmt. Ein wenig klang es in dieser Woche auch bei Friedrich Merz nach "wir Normalos gegen die Verrückten da": "Nein, die Welt geht morgen nicht unter", versprach er den Leuten vom CDU-nahen Wirtschaftsrat, "auch wenn es sofort wieder Shitstorms auf Twitter gibt, wenn ich das sage". Es ist das Palmern, eine präventive Shitstorm-Opferpose, erfunden vom Ex-Grünen Boris Palmer ("der Shitstorm wird nicht vermeidbar sein").
Perfekte Wetterlage für Populismus
Drohen nun amerikanische Verhältnisse? Es ist zu früh, um DeSantis an die Wand zu malen. Und doch sind die Wetterbedingungen nicht schlecht für besonders groben Populismus. Erstens: Eine Regierungspartei, die anscheinend ohne Rücksicht auf "die kleinen Leute" durchregiert. Zweitens: Eine frischgebackene Rezession, die jede Abstiegsangst im Lager der Zukurzgekommenen adelt. Drittens: Eine wie nie zuvor durch soziale Medien und ihre Erregungskurven dominierte Öffentlichkeit.
Amerika und Europa rücken zusammen. Hier leider auf die schlechte Art.
Quelle: ntv.de