Debatte um Flüchtlingspolitik "Drohgebärden sind nur noch peinlich"
11.04.2011, 20:02 UhrDer Flüchtlingsstrom aus Nordafrika reißt nicht ab und stürzt Europa in eine tiefe Krise: Die EU sieht Italien in der Pflicht, Italien will den Flüchtlingen Visa ausstellen und sie in andere Länder weiterreisen lassen und Deutschland droht mit schärferen Grenzkontrollen. Diese "kleinkarierte Politik nach dem Sankt-Florians-Prinzip" müsse aufhören, findet die Presse. Jetzt gehe es darum, endlich gemeinsame Lösungen zu finden.

Ein Boot mit Flüchtlingen aus Nordafrika nähert sich am 9. April Lampedusa.
(Foto: picture alliance / dpa)
"Der Aufschrei ist groß: Schengen ist in Gefahr! Frankreich praktiziert wieder Grenzkontrollen gegenüber Italien, Deutschlands Minister und südliche Landesfürsten drohen, ebenfalls ihre Schlagbäume wieder aufzustellen. Und das, obwohl nur wenige Nordafrikaner überhaupt nach Deutschland wollen." Das Handelsblatt aus Düsseldorf fordert eine sachliche Diskussion: "Wir reden über 26.000 Menschen, die seit Beginn des Jahres die kleine italienische Mittelmeerinsel Lampedusa erreicht haben. 26.000 Menschen kommen auf eine Bevölkerung von 60 Millionen in Italien oder 350 Millionen in Europa. Wir Europäer bejubeln die mutigen Aufstände von Tunesien bis Ägypten. Doch angesichts von einem Flüchtling pro 13.460 Einwohner geraten wir in Panik. Zum Vergleich: Allein Tunesien hat in diesen Wochen 160.000 Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen."
"Berlusconis Drohung, alle Afrikaflüchtlinge mit Touristenvisa zu versorgen, ist eine dreiste Erpressung. Leider ist auch die deutsche Antwort, dann mache man halt die Grenzen dicht, völlig daneben", kommentiert der Münchner Merkur. Denn "wer unter Lebensgefahr das Mittelmeer überquert, scheut sich nicht, sich über die grüne Grenze ins gelobte Land mit den hohen Sozialleistungen durchzuschlagen. Die europäischen Drohgebärden sind nur noch peinlich. Kleinkarierte Politik nach dem Sankt-Florians-Prinzip. So oder so kommt Europa nicht umhin, Nordafrika politisch und ökonomisch zu befestigen. Das kostet viel Geld. Mit dem Sturz der Despoten Mubarak und Ben Ali und etlichen Bomben auf den Wüsten-Schurken Gaddafi ist es ja nicht getan. Sollte Westerwelle das vergessen haben, als er sich in Kairo als Freund der arabischen Befreiungsbewegung feiern ließ?"
Aber "die Antworten für eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik liegen nicht erst seit den bahnbrechenden Umwälzungen in Nordafrika auf dem Tisch", erinnert die Rhein-Zeitung (Koblenz/Mainz). "Wissenschaftler schlagen seit Langem eine abgestimmte Außen-, Entwicklungs- und Flüchtlingspolitik vor, womit die Wirtschaft in den Herkunftsländern selbst gestärkt und damit Arbeitsplätze (und Gründe zum Bleiben) geschaffen werden sollen. Nicht zuletzt braucht aber auch Europa gut ausgebildete Arbeitnehmer aus anderen Ländern. Die Arbeitsmigration könnte man gemeinschaftlich besser steuern. Die EU sollte sich endlich an den großen Wurf in der Flüchtlingspolitik heranwagen - und sich nicht dauerhaft zur Getriebenen der Ereignisse machen lassen."
Allerdings, stellt die Leipziger Volkzeitung fest, hätten weder Rom noch Brüssel haben einen Plan in der Tasche: "Wer flüchtet vor dem wirtschaftlichen Elend in seiner Heimat? Wer ist wirklich von politischer Verfolgung bedroht? Es herrscht Ratlosigkeit beim Umgang mit diesen Menschen." Die Drohung Italiens sei da nur ein "plumper Versuch", das Problem auf die Nachbarländer abzuwälzen. "Dass da besonders in Österreich und Deutschland der Widerstand wächst, ist nachvollziehbar. Dabei ist nichts dringender geboten, als gemeinsam nach Lösungen für das Flüchtlingsdrama zu suchen. Weder italienisches Inseldenken - und schon gar nicht die provokanten Äußerungen über einen möglichen EU-Austritt - , noch eine strikte nordeuropäische Abschottungspolitik helfen weiter."
Für den Mannheimer Morgen ist klar, dass Berlusconi nur ein Ziel mit seinen Provokationen verfolgt. Er "instrumentalisiert die 26.000 tunesischen Flüchtlinge auf ziemlich schäbige Weise, um von seinem 'Bunga-Bunga-Prozess' abzulenken. Wer sich dazu hinreißen lässt, die Wiedereinführung der Grenzkontrollen anzukündigen, muss wissen, wessen Geschäft er da erledigt. Es wäre die Abschaffung des europäischen Grundrechts auf Reisefreiheit. Daran wären nicht die Flüchtlinge, sondern der angeschlagene Regierungschef in Rom schuld. Er ist es, der die Grundlagen der EU mit Füßen tritt. Niemand sonst."
Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Katja Sembritzki