Die Charta der Vertriebenen "Ein Kind ihrer Zeit"
05.08.2010, 21:29 UhrDer Bund der Vertriebenen feiert den 60. Jahrestag seiner Gründungscharta. BdV-Präsidentin Erika Steinbach würdigt das Dokument als "eindeutige Absage an Revanche und Gewalt", Kritiker hingegen bemängeln unter anderem die fehlende Verurteilung der Verbrechen des Nazi-Regimes. Dieses Versäumnis wirft auch die Presse den Vertriebenen vor, findet jedoch ebenfalls lobende Worte für deren Verdienste.

Erika Steinbach eckt immer wieder an. Für Außenminister Westerwelle gibt es auf der Veranstaltung Buhrufe.
(Foto: dpa)
Die Braunschweiger Zeitung versucht Gründe für das Unverständnis gegenüber dem Bund der Vertriebenen auszumachen: "Sie wurden entwurzelt, verloren ihr Hab und Gut. 14 Millionen Menschen deutscher Herkunft mussten nach dem 2. Weltkrieg im Zuge der Niederlage Nazi-Deutschlands östlich von Oder und Lausitzer Neiße ihre Heimat verlassen. Sie mussten leiden. Und doch stoßen ihre Verbände nicht nur in Osteuropa, auch in Deutschland seit langem auf Unverständnis. Der Bund der Vertriebenen bezeichnete (...) seine 'Charta der deutschen Heimatvertriebenen' als Dokument für die friedliche Entwicklung in Europa. Friedlich? In der Charta heißt es: 'Wir verzichten auf Rache und Vergeltung.' Die Vertriebenen maßen sich demnach an, ein Naturrecht auf Vergeltung zu besitzen. Vergebens sucht man nach einem Satz, der die Verbrechen der Nazis verurteilt."
"Bei allen Verdiensten des Bundes der Vertriebenen kommt die Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg von Deutschland ausging und mit der Ermordung und Vertreibung von Angehörigen anderer Nationen begann, bis heute im Denken vieler Funktionäre zu kurz", kritisiert die Märkische Oderzeitung. Und geht noch weiter: "Und auch die daraus resultierende Verantwortung." Stattdessen würden "Theorien ins Feld geführt, wie etwa die, dass der von Hitler ausgelöste Krieg den anderen Ländern erst die Chance gegeben habe, die Deutschen loszuwerden". Solche Äußerungen schadeten der Verständigung auf politischer Ebene schwer. "Die Einsicht, dass Krieg und Hass auf andere Völker zu neuem Unheil führen, haben viele Vertriebene auf eigene Weise schmerzlich gewinnen müssen."
Die Leipziger Volkszeitung erinnert: "Die Ursache für Flucht und Vertreibung liegt nicht im Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern im Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seiner denkwürdigen Rede von 1985 zum Tag der Befreiung klare Worte gefunden." Für die Vertriebenen findet das Blatt wohlwollende Worte: Auch wenn die "vor 60 Jahren die Nazi-Gräuel nicht als Ursache in ihrer Charta erwähnten, so sind doch die Allermeisten längst im Heute angekommen". "Viele von ihnen haben den Verlust der Heimat in ein produktives Miteinander umgesetzt. Umso bedauerlicher ist es, dass immer wieder Misstöne stören. Der Streit um den Stiftungsbeirat gehört genauso dazu wie die Pfiffe für Außenminister Westerwelle."
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert: "Wenn man die Bedeutung dieser Charta ausreichend würdigen will, muss man sich die Situation vor Augen führen, in der sich die Vertriebenen 1950 befanden. Bevor sich jemand aufregt: Dieser Rat stammt vom früheren Bundeskanzler und SPD-Vorsitzenden Schröder. Auch für unkonditionierte Sätze wie 'Vertreibung lässt sich niemals rechtfertigen', 'Vertreibung, daran kann es keinen Zweifel geben, ist stets ein Unrecht', muss man ihm noch im Nachhinein danken wenn man sieht, wie armselig das ist, was seine Parteigenossen heutzutage auf diesem Feld äußern. Die Charta der Heimatvertriebenen ist ein Kind ihrer Zeit. In manchem war sie dieser Zeit aber auch voraus, etwa im Blick auf ein geeintes Europa. Geblieben ist sie ein Dokument des Willens zur Versöhnung, zur Integration und zum Wiederaufbau."
Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Nadin Härtwig