Pressestimmen

Westerwelle provoziert "Er verwechselt Tiefsinn mit Unsinn"

In der Hartz-IV-Debatte schlagen die Wellen hoch: FDP-Chef Guido Westerwelle hält den Sozialstaat für spätrömisch dekadent und greift damit von der Regierungsbank aus zur "großen Keule" des Oppositionsführers. Von einem Vizekanzler aber erwartet die Presse mehr Einfühlungsvermögen.

Westerwelle wähnt sich verbal noch auf Seiten der Opposition.

Westerwelle wähnt sich verbal noch auf Seiten der Opposition.

(Foto: dpa)

An Westerwelle scheiden sich die Geister. Die Frankfurter Neue Presse hält seine Äußerungen für eine risikoreiche und kalkulierte Beleidigung: "Der Mann hatte schon immer das Zeug zum Polarisierer; und so hat er auch die ersten 100 Tage seines Regierungsamtes dazu genutzt, sich mit rasiermesserscharfen Sprüchen zum Lieblings-Rüpel der deutschen Republik zu erheben. Seine Äußerungen über Hartz IV sind kalt und gefühllos, ja, beleidigend für all jene, die häufig ausweglos in der Armutszone der Gesellschaft leben. Die Empörung, die Westerwelle entgegenschlägt, ist also verständlich aber sie ist auch kalkuliert. Wenn ich nur populär hätte werden wollen, sagt er, wäre ich Schlagersänger geworden... Dennoch ist es nicht ohne Risiko, dass er jetzt so fulminant den marktliberalen Macho gibt: Die Menschen mögen es nicht, wenn man sich auf Kosten anderer profiliert."

Für die Kieler Nachrichten hat Westerwelle den Sprung von der Oppositionsbank in die Regierung noch nicht geschafft: "Provozieren, zuspitzen, hinlangen: Das ist normalerweise der Politik-Stil der Opposition. Wenn jetzt der FDP-Chef wieder zur großen Keule greift, blendet er offenbar aus, dass er nicht mehr Oppositionsführer ist, sondern Vizekanzler und Außenminister. Was für einen Partei-General noch angeht, sollte sich der zweithöchste Regierungspolitiker verkneifen. Plakative Kampfbegriffe heizen nur die Stimmung auf."

Die Süddeutsche Zeitung sieht den Außenminister an seinen selbsternannten Ansprüchen scheitern: "Das Unglück des Guido Westerwelle begann am Dreikönigstag. Damals rief er auf dem gleichnamigen FDP-Parteitag in Stuttgart eine 'geistig-politische Wende' aus. Seitdem scheitert er fast täglich an dem Anspruch, diese Wende höchstpersönlich einzulösen. Westerwelle versucht also krampfhaft, seine Politik mit vermeintlichem Tiefsinn anzureichern, er greift zu höchst seltsamen historischen Vergleichen, er verwechselt Geist mit Ungeist und Tiefsinn mit Unsinn - und erreicht so das Gegenteil dessen, was er eigentlich erreichen will. Erreicht hat Westerwelle mittlerweile auch, dass sich die Bundeskanzlerin von ihm distanziert. Es ist dies ein neuer Tiefpunkt in der kurzen Geschichte der schwarz-gelben Koalition."

Die Berliner Zeitung stellt einen Zusammenhang zwischen Westerwelle und dem österreichischen Populisten Haider her: "Es ein unerhörter Vorgang, wenn die Regierungschefin sich gezwungen sieht, öffentlich von ihrem Stellvertreter abzurücken. Es zeigt, wie weit Westerwelle sich von dem entfernt hat, was man noch als eine intellektuell anspruchsvolle politische Debatte bezeichnen kann. Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Das muss man sagen dürfen." Die Aussage aber, dass alles andere 'geistiger Sozialismus' sei, "ist einer der dumpfen und eigentlich sinnfreien Sprüche, mit denen Westerwelle sich offenbar bemüht, wenigstens den kernigsten Kern der FDP-Wählerschaft bei Stimmung zu halten. Nur mit diesem Anliegen ist das Abdriften Westerwelles auf ein geistiges und sprachliches Niveau zu erklären, das man einst von einem anderen Bannerträger der freiheitlichen Idee, dem Österreicher Jörg Haider, kannte."

Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Katja Sembritzki

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