Pressestimmen

Wahl in Berlin "Irritierend und gar nicht so lustig"

Trotz leichter Verluste: Wowereit bleibt Chef im Roten Rathaus. Für seinen Erfolg ist er allerdings nicht selbst verantwortlich, sondern die Grünen. Überrascht haben die Piraten. Ihr gutes Abschneiden ist ein Alarmsignal an die etablierten Parteien.

Wowereit lässt sich feiern.

Wowereit lässt sich feiern.

(Foto: dpa)

Wowereit kann jetzt als SPD-Bürgermeister mit der längsten Amtszeit in die Geschichte Berlins eingehen. Aber er hat es "weniger sich selbst und noch weniger seiner Partei als der unfreiwilligen Mobilisierungshilfe der Grünen zu verdanken", meint die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Denn "der Kampfgeist des bräsig-selbstgefälligen Stadtoberhaupts wurde erst geweckt, als die Grünen vor Jahresfrist einen demoskopischen Höhenflug antraten und nach der Wahl in Baden-Württemberg die Aussicht in greifbare Nähe rückte, die SPD auch in Berlin deklassieren zu können. Die alten Reflexe der Berliner SPD sind also noch nicht gänzlich verkümmert. Doch ob die Partei fähig ist, der hochverschuldeten Stadt mit dem chronisch schlechtesten Bildungssystem in Deutschland neue Impulse zu geben, ist ungewisser denn je."

"Klaus Wowereit hat einen Wahlkampf mit positiven Emotionen geführt. Aber es war kein Wellness-Wahlkampf." Und wenn Wähler und mögliche Koalitionspartner genau hingehört haben, wissen sie, was jetzt kommt. Die Berliner Zeitung fasst es nochmal zusammen: "Die A 100 wird gebaut, ohne Wenn und Aber. Der Flughafen Schönefeld wird nicht nur gebaut, sondern schon bald ausgebaut, und bis spät abends wird geflogen. Basta. Und die Mieten werden in Berlin steigen. Wer im Wahlkampf anderes versprochen hat, hat eben zu viel versprochen. Wowereit ist kein Pirat, der gerade mal anfängt sich eine Meinung über dies und das zu bilden. Er regiert seit zehn Jahren. Nie hat er seinen Führungsanspruch deutlicher formuliert."

Der Tagesspiegel aus Berlin fragt sich, was für Konsequenzen die Verluste der SPD für Wowereits bundespolitische Ambitionen haben: "Die Sozialdemokraten selbst kommen nicht vom Fleck. Gerade mal jeder sechste erwachsene Berliner mit deutschem Pass stimmte für die SPD - das ist die für Klaus Wowereit ernüchternde Zahl, die hinter der erneut miserablen Wahlbeteiligung und dem eigenen mäßigen Ergebnis steckt. Das hat Folgen über Berlin hinaus: Wowereit kann zwar wieder Regierender Bürgermeister werden, aber Kanzlerkandidatenkandidat eher nicht, weder aus eigenem Antrieb noch als Gebetener. Die Aura des dreifachen Wahlsiegers, die keiner der anderen Spitzensozialdemokraten aufweisen kann, ist mit diesem Ergebnis auf Bundesebene kaum präsentabel."

"Die Grünen haben - auf sehr hohem Niveau - auch deshalb enttäuscht, weil Renate Künast sich lange nicht entscheiden mochte, (…) das moderne sozialliberale Projekt dem schwarz-grünen Bürgerbündnis der Arrivierten vorzuziehen." Die Frankfurter Rundschau erklärt, was die Grünen endlich verstehen müssen: "So modern die Union sich hier und da gibt, so wenig ist Integration im Großen mit ihr zu machen. Wenn Rot und Grün im Bund es ohne Linke schaffen wollen, müssen sie dem schwarz-gelben Chaos und zugleich dem 'Weg mit Hartz IV' eine umfassende Idee von neuer Sozialpolitik entgegensetzen."

Nur eine "Berliner Spezialität"? Die Piraten bejubeln ihren Einzug ins Abgeordnetenhaus.

Nur eine "Berliner Spezialität"? Die Piraten bejubeln ihren Einzug ins Abgeordnetenhaus.

(Foto: dapd)

Die Westdeutsche Zeitung blickt auf das überraschend gute Abschneiden der Piratenpartei: "Verblüffend, irritierende und gar nicht so lustig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist der unglaubliche Erfolg der Piratenpartei. Sowas funktioniert in einer bunten Großstadt wie Berlin besonders gut. Dennoch ist deren Erstarken ein Alarmsignal dafür, wie sehr etablierten Parteien an Bindung und Glaubwürdigkeit verloren haben."

"Wer von der inhaltlichen Ödnis bei den Großen profitierte, ist die Piratenpartei", kommentiert auch die Rhein-Zeitung (Koblenz-Mainz). "Ihr Spitzenkandidat, der den Schuldenstand der Stadt in einer öffentlichen Runde auf 'viele Millionen' schätzte, sprich: keine Ahnung hatte, will ein Schulfach 'Rauschmittelkunde' einführen, freien Internetzugang für alle, ein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden und kostenloses U-Bahn-Fahren. Wäre die Lage im Land nicht so ernst, könnte man den Erfolg der Piraten unter 'Berliner Spezialitäten' verbuchen. Nach dem Motto: In der Hauptstadt ticken die Uhren eben ein wenig anders. Eigentlich aber kommt der Piratensieg einer Verhöhnung der etablierten Parteien gleich. Außer den Piraten hat nach dieser Wahl deshalb niemand etwas zu feiern, am allerwenigsten die FDP."

Die Eßlinger Zeitung analysiert das Scheitern der Liberalen: "Die FDP verliert stärker als erwartet. Das populistische Zündeln mit der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands hat Philipp Rösler und seiner FDP mehr geschadet als genutzt. Die Botschaft, mit der auch Kanzlerin Angela Merkel gut leben kann, lautet: Komplexe Themen taugen nicht für einfache Lösungen, die auch am Stammtisch ersonnen sein könnten. Die Hoffnung, dass wieder Solidität in die aufgeregte Diskussion um die Euro-Rettung einkehrt, ist (nach der Wahl in Berlin) größer geworden. Die FDP weiß nun genau: Es gefällt den Wählern nicht, wenn der Euro, von dem vor allem Deutschland profitiert hat, auf dem parteipolitischen Altar geopfert wird."

Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Katja Sembritzki

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