Pressestimmen

Grün-roter Koalitionsvertrag "Spannendes politisches Experiment"

Der designierte Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen - l-r), und der SPD-Landesvorsitzende Schmid präsentieren den Koalitionsvertrag.

Der designierte Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen - l-r), und der SPD-Landesvorsitzende Schmid präsentieren den Koalitionsvertrag.

(Foto: dpa)

Es ist vollbracht! Gut 31 Jahre mussten die Grünen seit ihrer Gründung als Bundespartei auf diesen Moment warten: Mit der Unterzeichnung des bundesweit ersten grün-roten Koalitionsvertrages in Baden-Württemberg sind die Weichen dafür gestellt, dass Winfried Kretschmann am 12. Mai als erster Grüner überhaupt zum Ministerpräsidenten gewählt wird. Der "Ehevertrag" soll einlösen, was Grüne und SPD im Wahlkampf versprochen haben: Einen Politikwechsel, der das Land grüner und die Wirtschaft nachhaltiger machen soll und der die Bildungschancen von der Herkunft entkoppeln will. Die Handschriften beider Seiten sind in dem Vertrag zu erkennen - ein gelungener Start für eine gemeinsame Regierungsarbeit, könnte man meinen, doch die deutschen Zeitungen hegen ihre Zweifel.

"Die Grünen beanspruchen Macht, aber nur bei den urgrünen Themen, also in der Nische", beanstandet die Frankfurter Rundschau. "Basisdemokratisch und ökologisch, das buchstabieren die baden-württembergischen Grünen in den von ihnen gewählten Ministerien durch. Die Kernaufgaben von Staat und Gesellschaft, das Land überlassen sie den Sozialdemokraten. Wer sich je gefragt hat, ob die Grünen angesichts ihrer Wahlergebnisse von stabil über 20 Prozent eine Volkspartei sind oder nicht, der hat jetzt einen vorläufigen Beweis dafür, dass die Wähler sie vielleicht dafür halten, der Partei selbst aber das Bewusstsein dafür komplett fehlt".

Die Berliner Zeitung sieht das ähnlich: "Als Volkspartei brauchen die Grünen ein Bewusstsein dafür, das Ganze, das Kleine wie das Große, im Blick zu haben. Schaut man sich aber die Verteilung der Ressorts im neuen Stuttgarter Kabinett an, so fehlt es den Grünen dort an allem. Sie haben für sich Ministerien wie Umwelt und Ländlicher Raum beansprucht. Alle klassischen Ressorts haben die Grünen ohne Not der SPD überlassen: Wirtschaft, Finanzen, Arbeit, Schule, Soziales. 30 Jahre nach ihrer Gründung und fast auf der Höhe der Macht angekommen (es fehlt nur noch ein grüner Kanzler), zieht es die Partei zurück zu den Wurzeln, in die Nische".

Für den Kölner Stadt-Anzeiger sieht die Realität etwa so aus: "Die SPD ist da für Wirtschaft und Arbeitsplätze, die Grünen für Umwelt und Bildung". Das entspreche zwar der Parteiprofilierung, sei aber eine "verwegene Arbeitsteilung", "weil die Konflikte zwischen Ökonomie und Ökologie programmiert sind". Die grün-rote Koalition werde darum gewiss deutlich weniger bewegen, als ihre Anhänger es sich wünschten. "Sie ist ein spannendes politisches Experiment mit Potenzial für die Zukunft. Man sollte nur nicht zu viel von ihr erwarten - und befürchten."

Die in Berlin herausgegebene Tageszeitung befürwortet das Vorgehen der künftigen grün-roten Landesregierung beim geplanten ökologisch und sozialen Umbau Baden-Württembergs: "Grün-Rot will die Energiewende engagiert angehen, betont aber den Dialog mit der Wirtschaft - selbst einem Atomendlager wollen sich die Grünen nicht verschließen. Kühler und langweiliger kann man den Umbau kaum betreiben. Es wäre aber falsch, diese Vorsicht mit Mangel an Ehrgeiz oder mit Opportunismus gleichzusetzen. Im Gegenteil: Sie ist vernünftig. Radikalreformen würden das Land nach fast 60 Jahren CDU-Herrschaft überfordern, das schwarz-grüne Milieu verprellen und vermutlich das schnelle Ende der Koalition bedeuten".

"Kretschmann muss klug sein wie Marc Aurel, integer wie Mutter Teresa und antriebsstark wie ein Daimler-Lastwagen", argwöhnt die Süddeutsche Zeitung. Und weil das objektiv schwierig sei, so die in München herausgegebene Tageszeitung, könne sich die Koalition auch "zum Desaster für die Grünen entwickeln: Es kann der grünen Partei in Kürze so ergehen wie der FDP nach der Bundestagswahl von 2009: Dann sind die Tage des Triumphs zugleich der Beginn des Absturzes. Diese Koalition kann aber, wenn sie erfolgreich ist, die Grünen zu einer Volkspartei neuen Typs machen; sie könnten die FDP auf Dauer marginalisieren und der CDU einen Teil ihrer konservativ-liberalen Wählerschaft wegnehmen. Die Grünen wären dann, wie einst die FDP in der alten Bundesrepublik, die Regierungsmacher. Die grüne Partei kann also viel gewinnen; das Risiko, viel zu verlieren, ist aber noch größer".

"Aller Anfang ist schwer", erinnern die Stuttgarter Nachrichten: "Der öko-ideologische Umgang Kretschmanns mit der Autowirtschaft, ohne die der Südwesten nicht so wohlhabend wäre, ein neues SPD-geführtes Integrationsministerium, dessen Aufgaben noch im Dunkeln liegen, die Modernisierung eines Bildungssystems, um das Baden-Württemberg in ganz Deutschland beneidet wird: Einige grüne und rote Vorreiter haben bereits laut mit den Sporen geklappert, wo ein leichter Schenkeldruck genügen würde. Wie auch immer: Der grün-rote Koalitionsvertrag, 88 Seiten dick, steht. Die Vorreiter haben ihre Pferde bestiegen. Jetzt müssen sie beweisen, dass sie auch sattelfest sind".

Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Susanne Niedorf-Schipke

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