Debatte um den Sozialstaat "Westerwelle hat der Sache geschadet"
19.02.2010, 21:06 UhrGuido Westerwelle hat die Debatte auf eine Minderheit verengt. Das ist der eigentliche Skandal. Statt am Thema vorbei zu diskutieren, ist eine sachliche Auseinandersetzung auf Basis des Karsruher Urteils angebracht.

Die Verfassungsrichter haben die Basis für eine Debatte über den Sozialstaat geschaffen: Sie fordern die Chance zur Teilhabe an der Gesellschaft.
(Foto: picture alliance / dpa)
"Sind es die Armen der Republik, die, anstatt arbeiten zu gehen, von Leistungen der Allgemeinheit leben? Oder sind es die Reichen, die ihre Millionen am Finanzamt vorbei im Schoß einer Schweizer Bank deponieren?" Für die Mittelbayerische Zeitung steht fest, dass weder die Armen noch die Reichen auf Kosten der Allgemeinheit leben, "sondern allenfalls eine Minderheit der jeweiligen Gruppe". Das Blatt aus Regensburg konstatiert aber auch, "dass seit knapp zwei Wochen der aufsehenerregende Steuerbetrug wohlhabender Deutscher, dokumentiert auf immer noch mehr CDs, kaum mehr eine Rolle spielt in der öffentlichen Meinung". "Zumindest nicht, wenn man dieses Vergehen mit dem neuen Thema Nummer eins vergleicht: Dem angeblichen Missbrauch staatlicher Leistungen durch die Hartz-IV-Empfänger."
"Die Zahl derer, die selbst oder im Freundeskreis erleben, wie Lohndrückerei, Knebelverträge und Auslagerung in Leiharbeitsfirmen immer stärker um sich greifen, nimmt (...) beständig zu. Auf all diesen Baustellen hätte der Vizekanzler Westerwelle längst handeln können, statt die Menschen, die er hinter sich scharen will, für dumm zu erklären." Die Süddeutsche Zeitung übt scharfe Kritik an dem Vize-Kanzer: "Wer wie er der Meinung ist, dass sich Leistung lohnen muss, lässt sich deshalb noch lange nicht als naiver Claqueur einer dumpfen Stammtischpolemik instrumentalisieren. Westerwelle hat der Sache, die er zu vertreten vorgibt, geschadet. Das ist der eigentliche Skandal."
Auch die Landeszeitung aus Lüneburg stört sich nicht an der Debatte selbst, sondern an der Art und Weise, wie sie von Westerwelle geführt wird: "Wer arbeitet, müsse mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Das müsse man noch sagen dürfen in unserem Land, schmettert Guido Westerwelle seit Tagen. Man darf. Sogar ganz dummes Zeug kann man sagen, etwa schwadronieren von 'altrömischer Dekadenz' oder 'anstrengungslosem Wohlstand'." Die Sozialstaat-Debatte sei notwendig, dafür liefere das Karlsruher Grundsatzurteil die Basis. Allerdings "für eine sachliche und weit über die von Westerwelle so verengte Auseinandersetzung hinaus". "Hilfreich könnte eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sein: Danach lebte Ende 2008 jeder siebte Deutsche an der Armutsgrenze. Besonders betroffen: Kinder und junge Erwachsene. Altrömische Dekadenz wird man dort ebenso wenig finden wie anstrengungslosen Wohlstand."
Auch für Frankfurter Neue Presse schlägt die Debatte eine verkehrte Richtung ein: "Bislang dreht sich die Diskussion allein um Faulpelze, Sesselhocker eben die Arbeitsunwilligen. Eine verschwindend geringe Zahl von Trittbrettfahrern nimmt den breitesten Raum in der Debatte ein." Der Kern des Ganzen liege jedoch woanders. "Die Strategie der Arbeitsagenturen, aus Geringqualifizierten zertifizierte Hilfskräfte zu machen, ist mehr eine Ad-hoc-Maßnahme als eine nachhaltige Lösung. Wollen wir unseren erarbeiteten Wohlstand behalten, muss das Augenmerk darauf liegen, Hartz-IV-Karrieren möglichst zu vermeiden. Und hier schließt sich der Kreis zum Grundsatzurteil der Verfassungsrichter. Sie forderten für Kinder, deren Eltern Hartz-IV-Empfänger sind, die Chance zur Teilhabe an der Gesellschaft. Das bedeutet auch, die Chance zu bekommen, etwas aus sich zu machen. Doch bislang geht die Debatte leider am Thema vorbei."
Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Nadin Härtwig