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Schmerz-Marathon mit Metallhüfte Andy Murray zerfetzt selbst fieseste Dämonen

Murray gewinnt nach unfassbarem Kampf wieder in fünf Sätzen.

Murray gewinnt nach unfassbarem Kampf wieder in fünf Sätzen.

(Foto: IMAGO/AAP)

Mentalitätsmonster, Metallhüfte, Andy Murray: Der einst schon fast zurückgetretene Brite gewinnt das nächste epische Marathon-Match. Bei den Australian Open hört man seine Schmerzen, während er die Welt an seine spezielle Stärke erinnert. Bei einer Sache muss allerdings Murrays Frau entscheiden.

Seinen schärfsten Konter haut er nach fünf Stunden und 45 Minuten Spielzeit raus. Der Interviewer auf dem Court, John Fitzgerald, will von Andy Murray wissen, wie er diesen unglaublichen Tennis-Marathon für die Geschichtsbücher noch zu seinen Gunsten drehen konnte. "Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe", stammelt der 35-Jährige im Post-Match-Interview. "Es ist unglaublich, dass ich es zusammengebracht habe, das noch zu drehen. Ich habe besser gespielt, je länger das Match gedauert hat. Und, yeah, ich habe ein großes Herz." Als Fitzgerald anschließend mit einem "Ich denke, an dir ist alles groß" antwortet, schlägt der Brite eiskalt zu: "Ich bin mir nicht sicher, ob meine Frau da zustimmen würde."

Scherze tief in der Nacht. Nach fast sechs Stunden Feuerwerk-Tennis. Unfassbar. Murray und der Australier Thanasi Kokkinakis duellieren sich zuvor bei den Australian Open bis in den Morgen hinein und kämpfen in dem Zweitrundenmatch am Ende gegen den Gegner und die Erschöpfung, bis der Brite schließlich mit einem 4:6, 6:7 (4), 7:6 (5), 6:3, 7:5-Sieg das Spiel um 4.05 Uhr beendet. Das Match wird in seiner Länge nur von einem anderen im Melbourne Park übertroffen - dem Finale der Australian Open 2012 zwischen Novak Djokovic und Rafael Nadal, das fünf Stunden und 53 Minuten dauerte.

Für das Spiel der Extraklasse, den Marathon der Schmerzen, verdienen beide Akteure den höchsten Respekt. Die Fans, die lautstark bis zum Morgen in der Arena ausharren, lassen sie es zu jeder Zeit spüren und vor allem hören. Brüllen und jubeln immer wieder ekstatisch ob des unglaublichen Kampfs bis zur letzten Sekunde. Murray wird dabei fast genauso frenetisch gefeiert wie der einheimische Kokkinakis.

Was die Fans zum Staunen bringt, was das Match zu einem historischen Spiel in den Melbourne-Geschichtsbüchern macht, sind etliche lange und unfassbar umkämpfte Ballwechsel. Die gesamte Partie über. Die Spannung erreicht zu Beginn des dritten Satzes ihren Höhepunkt, als Kokkinakis, der die ersten beiden Sätze gewinnen konnte, mit 2:0 in Führung geht und drei Breakbälle abwehrt.

Murray verscheucht Tennis-Geister

Doch Murray gibt nicht auf. Niemals. Denn die größte Stärke des Briten ist nicht seine unglaubliche Laufarbeit, sein immer noch grandioses Ballgefühl am Netz, oder sein Matchmanagement, also seine Fähigkeit, das Spiel zu spüren und dadurch zu diktieren: Murrays Vorteil gegenüber so vielen anderen Weltklasseprofis ist sein unbedingter Wille. Seine Zähigkeit. Sein Durchhaltevermögen. Seine mentale Stärke.

Damit besiegt er selbst die fiesesten Dämonen, die Tennisspieler in so einem Best-of-Five-Spiel mit einer Regelmäßigkeit heimsuchen. Sich bei ihnen heimtückisch im Schädel einnisten. Wenn sie einsam auf dem Court gegen sich und -gefühlt - den Rest der Welt kämpfen. Wenn auf einmal nichts mehr zu funktionieren scheint. Wenn der Kopf sich einschaltet und ein gefährliches Mantra summt: "Du bist nicht gut genug!", "den da drüben kannst du nicht schlagen!", "es ist vorbei!" Nicht mit Murray. Gegen Kokkinakis beweist der für seine Fünf-Satz-Qualitäten bekannte Brite immer und immer wieder, wie er mit seinem unbändigen Willen diese Geister verscheucht. Ohne diese Stärke hätte Murray sich auch nach seinen schweren Verletzungen niemals so zurückkämpfen können. Aber dazu gleich mehr.

Zurück in den dritten Satz. Nach der Abwehr von drei Breakbällen durch Kokkinakis schafft es Murray in diesem nervenzerfetzenden Spiel irgendwie, vier aufeinanderfolgende Smash-Versuche abzuwehren, sich die Kontrolle über den Punkt zurückzuholen - und schließlich den dritten Satz im Tiebreak für sich zu entscheiden.

Im vierten Durchgang ist Murray der Bessere, scheint fast in einen Jungbrunnen gefallen zu sein und nie an Energie zu verlieren. Der letzte Satz ist dann wieder, wie es sich gehört, zehn Spiele lang sehr ausgeglichen und ungeheuer spannend. In einem Aufschlagspiel von Kokkinakis führt Murray 40:0 und kann den Australier dennoch nicht breaken. Das Publikum rastet aus. Kurze Zeit später nutzt der Brite aber seine achte Break-Chance in diesem Satz mit einem Vorhand-Winner zur 6:5-Führung. Er ballt die Faust.

Murray machte dem Dreigestirn Konkurrenz

Mit einem Rückhand-Winner bei eigenem Aufschlag macht Murray schließlich den Marathonsieg perfekt. Es folgt eine innige Umarmung mit Kokkinakis am Netz - beide verstehen sich abseits des Courts sehr gut - und ein Urschrei für die Geschichtsbücher. Der Brite liegt am Ende in fast allen Kategorien hinten. Außer bei den gewonnenen Punkten, da führt er mit 196 zu 192.

Federer, Nadal, Djokovic und Murray. Hier beim Abschied von Federer im Herbst 2022.

Federer, Nadal, Djokovic und Murray. Hier beim Abschied von Federer im Herbst 2022.

(Foto: IMAGO/PanoramiC)

Die Welt darf in dieser Nacht Zeuge davon werden, was hätte sein können. Diese Generation wurde gesegnet mit den drei erfolgreichsten und vielleicht besten Tennisspielern jemals. Federer, Nadal, Djokovic. Aber manch einer hat vergessen, dass eine Zeit lang sogar von den "Großen 4" gesprochen wurde. Weil nur einer es vermochte, in den Jahrzehnten der unglaublichen Dreigestirn-Dominanz, auf eine gewisse Dauer ganz oben mitzuspielen: Andy Murray.

Klar, Stan Wawrinka brachte mal Djokovic ins Wanken und Juan Martín del Potro hier und da Federer. Und in der Neuzeit wagen sich auch mal die jungen Wilden um Alexander Zverev, Carlos Alcaraz, Dominic Thiem oder Casper Ruud vor. Aber am Ende gewinnen oft noch die Altstars, auch wenn Federer mittlerweile abgedankt hat, oder einer, der vorher noch nichts gewonnen hatte. Nur mit Murray gab es für die drei Maestros ernsthafte Konkurrenz auf Jahre. Drei Grand-Slam-Titel luchste er ihnen in ihrer absoluten Hochzeit ab. Immer wieder erreichte er Endspiele bei Grand Slams. In Melbourne ist er fünfmaliger Vizemeister, viermal verlor er im Finale gegen Djokovic und einmal gegen Federer.

Wer weiß, was gewesen wäre, wenn nicht die Verletzungen dazwischengefunkt hätten. Ach, die Verletzungen. Jeder Sportler kann ein Lied davon singen, klar. Doch Murray hat ganze Opern darüber geschrieben, eingespielt und gesungen. Seine Krankenakte ist eine Arie der Schmerzen. Im Januar 2017 wird der Brite als Weltranglistenerster für seine Verdienste um den Tennissport und wohltätige Zwecke in den Ritterstand erhoben. Dann geht es bergab. Im März folgt eine Ellbogenverletzung, bis er sich im August desselben Jahres zwei Tage vor den US Open mit einer Hüftverletzung zurückzieht.

Rückkehr mit Metallhüfte

Im Januar im Jahr darauf kann Murray die Australian Open auch nicht spielen und unterzieht sich einer ersten Hüft-OP. Im Juli 2018 zieht er sich einen Tag vor dem Turnier "schweren Herzens" aus Wimbledon zurück, da es noch zu früh sei, Fünf-Satz-Matches zu spielen. Er fällt er in der ATP-Rangliste auf Platz 839 zurück, seine niedrigste Platzierung seit seiner ersten Aufnahme in die ATP-Rangliste am 21. Juli 2003. Im Januar 2019 verkündet der Brite unter Tränen, dass er sich möglicherweise aus dem Profi-Tennis zurückziehen müsse, weil er "lange Zeit" körperlich zu kämpfen hatte. Wenige Monate später folgt die zweite Hüft-OP. Diesmal wird ihm eine Metallhüfte eingesetzt.

Wenn Murray nicht gerade seinen Gegner über den Court jagte, trank er Wasser, sehr viel Wasser.

Wenn Murray nicht gerade seinen Gegner über den Court jagte, trank er Wasser, sehr viel Wasser.

(Foto: picture alliance / AA)

Anschließend kehrt Murray tatsächlich noch einmal zurück auf die Tour. Spielt, gewinnt sogar manchmal. Zwar bremsen ihn anhaltende Beckenprobleme ein aufs andere Mal aus, doch das Mentalitätsmonster kämpft sich sogar bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 ins Viertelfinale im Doppel - und nun in die dritte Runde in Melbourne.

Dabei hat Murray beim Marathon gegen Kokkinakis nicht nur Schmerzen. Er schmerzt hörbar. Bei jeder Bewegung, bei jedem Sprint, bei jeder Drehung seiner Metallhüfte stöhnt der Brite laut auf. Zwischen den Punkten kann er zum Ende hin kaum noch laufen. Humpelt gekrümmt über den Court. Um anschließend die Filzkugel wie ein Besessener in jede Ecke des Platzes zu jagen. Ganze sieben 1-Liter-Flaschen Wasser und Elektrolytegetränk trinkt er über das Match verteilt. Kokkinakis ist mit 26 Jahren fast ein Jahrzehnt jünger als Murray, der in dieser Nacht das längste Match seiner Karriere bestreitet und zum elften Mal nach einem Zwei-Satz-Rückstand noch den Sieg erringt.

Eine Runde zuvor gewinnt er zwar die ersten beiden Sätze, aber der erste Fünf-Satz-Sieg des Turniers gegen Matteo Berrettini, an 13 in Melbourne gesetzt, ist ebenso unglaublich. Schließlich gilt der Italiener als einer der neuen Stars am Tennishimmel. Egal. Old-School-Murray zeigt auch ihm, mit seinem ersten Sieg über einen Top-20-Spieler bei einem Grand Slam seit 2017, was noch in ihm steckt.

Schlechte Zeiten für Dämonen

"In den letzten Jahren habe ich mich sicherlich manchmal in Frage gestellt. Es gab sicherlich eine Menge Leute, die an mir und meinen Fähigkeiten gezweifelt haben, ob ich bei den größten Events und den größten Matches noch mithalten kann", sagt der 35-Jährige nach dem mehr als viereinhalbstündigen Kampf. "Nach dem Match war ich sehr stolz auf mich. Das ist etwas, das ich in den letzten Jahren am Ende von Tennismatches nicht immer gespürt habe." Insgesamt stand Murray in diesem Jahr also schon mehr als zehn Stunden auf dem blauen Court. Manch einer kommt damit in Melbourne schon ins Viertelfinale. Für Murray reicht es für die zweite Runde. Verrückt.

Nach zwei Marathons, besonders nach dem Kokkinakis-Match bis in die frühen Morgenstunden - Murray wird nicht vor 7 Uhr morgens Ortszeit ins Bett gekommen sein - ist Regeneration genauso wichtige wie kompliziert. Damit hat sein Gegner in Runde drei, Roberto Bautista Agut, einen gehörigen Vorteil. Dass Murray eine dritte derartige Show abzieht? Unwahrscheinlich. Schon die zweite in Folge war eigentlich viel zu unrealistisch, um wahr zu werden.

Aber wer weiß. Bei Metall-Murray scheint derzeit alles möglich. Doch es ist auch egal, was er in der nächsten Runde zeigt. Der Brite hat wieder einmal bewiesen, warum er der Einzige war, der die Großen 3 wirklich herausfordern konnte. Dass er immer noch jeden Gegner mit Kampf, Ausdauer und unfassbarer mentaler Stärke in die Knie zwingen kann. Die Dämonen auf dem Platz sowieso. Schlechte Zeiten für Tennis-Geister.

Quelle: ntv.de

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