WM-Hoffnung Weber im Interview "Deutschland bewegt sich zwischen zwei Extremen"
30.07.2023, 08:04 Uhr
Julian Weber bei seinem größten Triumph: dem EM-Titel 2022 in München.
(Foto: IMAGO/Eibner)
Nach der verletzungsbedingten Absage von Weitspringerin Malaika Mihambo ist Julian Weber eine der wenigen Medaillenhoffnungen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes für die Weltmeisterschaften. Im Gespräch mit ntv.de gibt der Speerwurf-Europameister Einblick in technische Feinheiten, die er sich beim Olympiasieger abschaut, und erklärt sein hartes Training mitten in der Wettkampfsaison. Außerdem verrät der 28-Jährige, warum er viel Zeit in "Körperpflege-Training" investiert und gibt seine Einschätzung dazu ab, wie es um die Leichtathletik in Deutschland bestellt ist.
ntv.de: Julian Weber, wer Ihren Namen in die Suchmaschine eingibt, findet recht schnell eine Webseite, die Ihr Vater mit viel Einsatz erstellt zu haben scheint. Dort werden die sportlichen Nachrichten über Sie und Ihre Geschwister Vanessa und Patrick gesammelt. Was steckt dahinter?
Julian Weber: Die Seite hat mein Vater als Hobby angefangen, für sich, aber auch für uns als Erinnerung. Unsere Eltern waren schon immer unsere größten Fans. Meine Schwester hat in der Handball-Bundesliga gespielt, in der Jugend war sie auch eine richtig gute Leichtathletin, sogar mal deutsche Jugendmeisterin. Auch mein Bruder hat in der Bundesliga gespielt - und mein Vater war immer schon mit Kameras dabei, hat Fotos geschossen und alles dokumentiert. Da gibt es unzählige Stunden an Bild- und Videomaterial.
Eine der neuesten Meldungen dort ist Ihr dritter deutscher Meistertitel, Sie haben dabei Saisonbestleistung geworfen, knapp 89 Meter. Und blickten aber genau diesem, so weiten Wurf etwas missmutig hinterher.
Julian Weber ist Deutschlands derzeit bester Speerwerfer. Seit 2021 gewann der 28-Jährige vom USC Mainz dreimal in Folge den Deutschen Meistertitel, zuletzt Anfang Juli in Kassel. Dabei steigerte Weber seine Saisonbestleistung auf 88,72 Meter - mit dieser Weite liegt er rund vier Wochen vor den Weltmeisterschaften in Budapest (19.-27. August) auf Platz zwei der Weltjahresbestenliste.
Im vergangenen Jahr feierte Weber bei der EM in München seinen ersten großen Titel: Mit 87,66 Meter holte er die Goldmedaille. Zuvor hatte er bei der WM 2022 in Eugene sowie bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio jeweils den vierten Platz belegt.
Das stimmt. In dem Moment merke ich: "Okay, das ist ein guter Wurf - aber da hätte ich mehr draus machen können." In dem Moment ärgere ich mich, weil ich weiß, der Wurf hätte deutlich weitergehen können.
Hatten Sie in solch einem Augenblick auch schon mal das Gefühl: Dieser Wurf gerade, der war perfekt?
Den perfekten Wurf oder sogar die perfekten Würfe hatte ich bisher noch nicht. Aber ich hatte schon sehr gute Würfe, bei denen ich gemerkt habe, dass da einiges stimmt. Bei den Deutschen Meisterschaften zum Beispiel war das eigentlich ein sehr guter und ja auch weiter Wurf. Aber bei solchen Würfen ärgere ich mich manchmal trotzdem, weil ich weiß: Da hätte mehr gehen können.
Woran machen Sie dieses Gefühl fest?
Das sind so viele Parameter, die da reinspielen, das lässt sich so pauschal gar nicht sagen. Mit der Zeit bekommt man ein ziemlich gutes Körpergefühl und weiß genau, ob das ein guter Versuch war oder nicht, wenn der Speer die Hand verlässt. Und man merkt auch, woran das gelegen hat: War die Hand ein bisschen zu tief? War das Stemmen nicht so gut? Passte der Rhythmus im Anlauf? Ich analysiere das natürlich im Nachhinein mit meinem Trainer Burkhard Looks, da kann man dann schon sehen, was gut war und was nicht. Aber grundsätzlich ist es schon eher das Feeling.
Dieses Jahr dürfte das Feeling stimmen, mit 88,72 Meter stehen Sie auf Platz zwei der Weltbestenliste. Und der Saisonhöhepunkt mit der WM in Budapest kommt ja noch. Fallen da vielleicht endlich zum ersten Mal die magischen 90 Meter?
Es waren in diesem Jahr noch nicht viele Würfe dabei, bei denen ich sage: Da hat vieles gestimmt, das war harmonisch, das hat sich richtig gut angefühlt. Ich habe aber auch relativ spät erst mit der Vorbereitung angefangen und bin daher noch in dem Zeitfenster der Saison, in dem ich das größte Potenzial habe.
Potenzial ist ein gutes Stichwort. Mit Malaika Mihambo hat die verlässlichste Medaillensammlerin der deutschen Leichtathletik die WM absagen müssen. Neben den beiden Zehnkämpfern Leo Neugebauer und Niklas Kaul sind Sie als amtierender Europameister vielleicht die einzige Goldhoffnung für Budapest. Ändert das etwas in Ihrer Herangehensweise?
Das ist grundsätzlich eine schöne Position. Die bringt aber auch mehr Druck mit sich, wobei ich selbst mir den gar nicht mache. Ich kann damit aber gut umgehen, mittlerweile zumindest.
War das vor dem EM-Titel in München noch anders?
Im vergangenen Jahr war ich in einer ähnlichen Position und da war das noch echt neu für mich. Aber ich bin mir sicher, dass ich dadurch deutlich an Erfahrung gewonnen habe. Es ist jetzt eher eine Motivation und gibt mir ein gutes Gefühl.
100-Meter-Europameisterin Gina Lückenkemper sagte jüngst im "bahnEINS-Magazin", dass es ihr große Freude bereite und ihr Selbstvertrauen stärke, jetzt immer als "Europameisterin Gina Lückenkemper" vorgestellt zu werden. Geht es Ihnen ähnlich?
Ja, total, das gibt einem mega Selbstbewusstsein. Es ist einfach mehr Anerkennung da für das, was man macht. Lange Zeit war es irgendwie so, dass ich einer der Besten der Welt war, immer vorne mit dabei eigentlich - aber es waren trotzdem immer drei vor mir, die noch weiter geworfen haben.
Vor dem EM-Titel in München sind Sie 2021 Olympia-Vierter geworden, 2022 auch WM-Vierter in Eugene. Was tun Sie, um bereit zu sein für den Angriff auf die erste Medaille auf Welt-Ebene?
Ich habe direkt nach den Deutschen Meisterschaften wieder mit ziemlich hartem Training begonnen und bereite mich voll und ganz auf die Weltmeisterschaft vor. Auch, wenn ich jetzt noch Wettkämpfe habe. Ich gehe davon aus, dass ich da noch fitter und noch stärker sein werde als ich jetzt schon bin. Ich möchte in der besten Form seit Jahren, vielleicht sogar überhaupt in meiner Karriere, antreten. Und dann will ich da ganz vorne mit dabei sein.
Wie sieht "ziemlich hartes Training" inmitten einer Wettkampfphase aus?
Es ist nicht so hart wie das Wintertraining, aber für diese Saisonphase sind es verhältnismäßig härtere Trainingswochen. Da ist viel Kraft dabei, Maximalkraft, aber zur WM hin dann eher schnellkräftige und explosive Einheiten, auch mehr Sprünge und Sprints. Einfach, um schnell und agil zu werden, und dazu dann noch einzelne Technikeinheiten.
Um die zusätzliche Geschwindigkeit und Kraft dann auch unter Wettkampfbedingungen mit der optimalen Technik vereinen zu können?
Das ist die Schwierigkeit: Man muss das ganze System immer wieder anpassen. Wenn ich stärker bin, schneller bin, dann muss ich die Technik anpassen, sonst funktioniert das Ganze nicht mehr. Irgendwann stimmt es einfach nicht mehr, wenn zum Beispiel zu viel Power in den Beinen ist, der Oberkörper aber nicht hinterherkommt. Da muss immer alles im Gleichgewicht bleiben. Ich beschäftige mich schon viele Jahre mit meinem Körper und man muss immer neu ausprobieren: Was kann ich machen, um das Beste aus meinem Körper herauszuholen, und wie kann ich die meiste Power in den Speer übertragen?
Die drei deutschen 90-Meter-Werfer Johannes Vetter, Thomas Röhler und Andreas Hofmann sind ja auch wegen körperlicher Beschwerden weit von der Form früherer Tage entfernt. Wie gehen Sie mit der Gefahr um, den eigenen Körper zu überfordern?
Das ist die Kunst beim Speerwerfen, darauf kommt es eigentlich am meisten an: Gut zu trainieren, die Power in den Speer zu kriegen, aber trotzdem gesund und fit zu bleiben. Das sind extreme Kräfte, die beim Speerwurf auf den Körper wirken, auf die komplette Diagonale. Ich hatte auch schon viele Verletzungen, aber ich habe in den vergangenen Jahren viel Zeit und Mühe investiert, das System wieder gerade zu bekommen, damit ich stabil bin und die Belastung auch aushalten kann.
Was tun Sie, um Ihrem Körper etwas Gutes zu tun?
In den vergangenen Jahren ist das immer mehr geworden, dieses Körperpflege-Training: Faszienrollen, Yoga, Mobilitätstraining, Stretching, Physiotherapie, Eisbad und all diese Sachen. Das kostet viel Zeit, aber die muss man investieren, damit man diesen Sport so betreiben kann, wie wir es machen.
Verletzungen sind im Spitzensport ein Dauerthema, dem Deutschen Leichtathletik-Verband fehlen für die WM deshalb gleich mehrere Stars. Neben Weitspringerin Mihambo mussten etwa mit Alexandra Burghardt und Lisa Mayer zwei Sprinterinnen der 4x100-Meter-Staffel absagen. In diesen beiden Disziplinen gab es im Vorjahr die beiden einzigen deutschen Medaillen bei einer desaströsen WM, dann folgte die rauschende EM in München. Wo steht die deutsche Leichtathletik aktuell?
Das stimmt, das waren wirklich zwei Extreme. Es ist schwierig zu sagen, man könnte meinen, es wäre ein Abwärtstrend, der stattfindet. Aber ich würde das so nicht sagen. Ich glaube, es ist gerade einfach so eine Übergangsphase. Wir haben gerade viele Top-Leute, die aktuell verletzt sind. Da ist extrem viel Pech dabei bei vielen, die sonst in der Weltspitze sind. Deswegen sind wir derzeit etwas geschwächt im Team, aber mit Blick auf die nächsten Jahre denke ich schon, dass wir gut aufgestellt sind in der Zukunft. Denn es kommen viele gute junge Leute nach.
Eine wiederkehrende Diskussion gibt es auch um internationale Trainingsgruppen. Gina Lückenkemper schwärmt davon, der DLV erlaubt seinen Bundestrainern aktuell nicht, ausländische Athletinnen und Athleten zu betreuen. Wie sieht Ihr Trainingsalltag aus?
Ich bin schon immer relativ für mich mit meinem Trainer Burkhard Looks. Ich trainiere teilweise in einer Trainingsgruppe, aber auch schon sehr viel allein. Ich bin ja schon länger dabei, bin ein reifer Athlet und weiß, was mir guttut und was ich brauche, wie ich besser und stärker werde.
In der Vergangenheit galt das finnische Speerwerfen oft als Vorbild - ist es grundsätzlich eine Option, für neue Ansätze ins Ausland zu schauen?
Ich könnte es mir grundsätzlich schon vorstellen, auch mal so zu trainieren. Wir sind auch teilweise in den Trainingslagern am selben Ort, dieses Jahr zum Beispiel in Belek in der Türkei. Das ist immer super nett, ich verstehe mich mit Neeraj Chopra (Olympiasieger 2021, Vize-Weltmeister 2022; Anm.d.Red.) super gut, auch mit Jakub Vadlejch (Olympia-Zweiter 2021, WM-Dritter 2022), eigentlich mit allen Speerwerfern. Das sind alles entspannte, gute Dudes und es ist immer schön, die zu treffen. Bei Jakub und Neeraj habe ich mir im Trainingslager zu Jahresbeginn auch ein bisschen was abgeguckt.
Was denn?
Die werfen mit einer deutlich größeren Rotation, das hab ich eigentlich schon lange entdeckt, aber für mich noch nicht umgesetzt. Aber dieses Jahr hatte ich mir vorgenommen, diese Rotation etwas mehr in meine Technik einzubauen
Rotation beim Speerwerfen klingt erstmal merkwürdig. Was heißt das? Es geht um die Ausholbewegung, oder?
Genau, um mit etwas mehr Verwringung (des Oberkörpers) einen längeren Beschleunigungsweg zu haben. Durch diese Rotation, wenn sie funktioniert, kann man eine höhere Beschleunigung (des Speers) erzielen. Aber es ist natürlich auch deutlich schwieriger, das umzusetzen und den Speer ordentlich und schön zu treffen.
Also aus der Rotationsbewegung beim Ausholen und beim Abwurf dann den Speer in eine gerade Flugbahn zu schicken?
Genau. Da passiert es schneller, den Speer zu verkanten. Da eine schöne Flugkurve zu treffen, ist dadurch deutlich schwieriger. Aber das habe ich inzwischen ganz gut umgesetzt. Das sind aber nur Nuancen, also noch nicht so krass wie bei den anderen Werfern. Aber das habe ich ein bisschen für mich entdeckt und kann ich in der Zukunft auch noch weiter ausbauen. Das muss ja nicht direkt perfekt klappen.
2016 haben Sie das erste Mal über 88 Meter geworfen, in diesem Jahr sollen endlich die 90 Meter fallen. Ist Ihre Technik von damals mit der heutigen eigentlich noch vereinbar?
Das sind eher Feinheiten, die sich ändern. Mittlerweile werfe ich mit einer etwas anderen Technik, das ist auch den Verletzungen und Operationen, die ich hatte, geschuldet.
Lassen sich die von außen erkennen?
Das sind kleine technische Veränderungen, zum Beispiel das Stemmbein. Ich muss mittlerweile den Fuß beim Stemmen ein bisschen nach innen drehen, damit ich ordentlich stemmen kann. Das "normale" Stemmen, also den Fuß gerade nach vorne aufzusetzen, das gibt mein Fuß nicht mehr her.
Das klingt vielversprechend - und auch nach einer für große Wettkämpfe wichtigen Eigenschaft: auf die Umstände reagieren und sich anpassen zu können.
Das ist auch meine Stärke: Wenn es nicht so gut läuft, trotzdem das Beste aus der Situation zu machen und gut zu performen. Da bin ich, würde ich jetzt mal behaupten, einer der wenigen, die auch mit widrigen Bedingungen gute Leistungen bringen.
Mit Julian Weber sprach Torben Siemer
Quelle: ntv.de