Sport

Harter Handball-Hund wird weich Die wunderbare Wandlung des Bundestrainers

de2c8255284af8da9916212aa93484e6.jpg

Entspannter Typ: Alfred Gislason.

(Foto: AP)

Der Trainer der deutschen Handball-Nationalmannschaft hat sich einen Namen als Typ gemacht, der weder sich noch seine Spieler und schon gar nicht den Gegner schont. Doch nach einem Schicksalsschlag entdeckt der harte Hund aus Island mit 63 Jahren seine weiche Seite.

Als Spieler und später auch als Trainer war Alfred Gislason der Inbegriff jenes Typs, der in Handballkreisen gern als "harter Hund" tituliert wird. Einer, der weder sich noch seine Gegner schont und auch gegenüber seinen Spielern mit eiserner Hand regiert. So berichtet der ehemalige Nationalspieler Stefan Kretzschmar in seinem Buch "Hölleluja!", wie er Anfang des Jahrtausends während der gemeinsamen Zeit in Magdeburg, als der Linksaußen und der Erfolgstrainer die Meisterschale und den Champions-League-Pokal an die Börde holten, an einem Bandscheibenvorfall laborierte, der ihn Höllenqualen durchleiden ließ. Ein Befund, den Gislason kurzerhand negierte. Er nominierte Kretzschmar trotz der Schmerzen und wechselte ihn sogar ein.

Ein solch schonungsloses Vorgehen würde sich der Isländer heutzutage mit großer Sicherheit nicht mehr erlauben. Mit 63 Jahren hat der harte Hund seine weiche Seite entdeckt, das Auftreten des Mannes, der die deutsche Nationalmannschaft seit drei Jahren als Bundestrainer dirigiert, ist während der Weltmeisterschaft in Polen und Schweden, bei der das deutsche Team im Viertelfinale in Gdansk auf Frankreich trifft (20.30 Uhr im ZDF und im Liveticker bei ntv.de), in jeder Hinsicht bemerkenswert.

"Wenn man eng mit jungen Leuten arbeitet, hält einen das auf Trab"

Seine Amtszeit als Bundestrainer begann sportlich kompliziert, Gislason operierte seit seinem Amtsantritt 2020 nahezu permanent im Krisenmodus, die Pandemie machte einen kontinuierlichen Aufbau einer Mannschaft lange nahezu unmöglich. Privat erlebte der Isländer schwere Schicksalsschläge. Im März, nach geschaffter Olympiaqualifikation, machte er einen Brief öffentlich, in dem ein rechter Wirrkopf mit einem "Besuch" droht, sollte Gislason seinen Posten nicht für einen deutschen Bundestrainer räumen. "Nach insgesamt knappen 30 Jahren in Deutschland das erste Mal, dass ich in diesem großartigen Land bedroht wurde", schrieb Gislason, die Solidarität aus dem Sport war überwältigend.

Im Mai 2021 dann starb seine Frau Kara-Gudrun an Krebs. Die beiden kannten sich, seit er zwölf Jahre alt war, sie waren 40 Jahre lang verheiratet. Seine erste Reaktion auf die Diagnose der Ärzte, dass auch die Chemotherapie keine Ergebnisse mehr erziele, sei gewesen: "Ich rufe Axel Kromer an, kündige - und wir gehen dann nach Island und verbringen die Zeit, die Kara noch bleibt, gemeinsam in Island", hatte er der "Sport Bild" rückblickend auf die niederschmetternde Diagnose erzählt. Doch seine Frau hielt ihn davon ab. "Die Spieler wussten, dass Kara krank war. Mit der Zeit hörten sie auch, dass es ihr schlechter ging." Als sie starb, sagte Gislason bei RTL: "Es war ein Schock, wie schnell es ging."

Nur wenige Monate später reiste er zu den Olympischen Spielen in Tokio, wurde mit dem Team Sechster. "In dieser Zeit war Handball sehr wichtig für mich. Gerade wenn man eng mit jungen Leuten arbeitet, hält einen das auf Trab und am Leben", hatte er dem Sportinformationsdienst gesagt. "Es macht das Leben schön, wenn man junge Leute in ihrem Sport und auf ihrem Lebensweg weiterbringen kann. Es ist alles anders gekommen, als ich dachte, aber das Leben geht weiter."

Er stand die schwere Zeit durch, verlängerte seinen Vertrag beim DHB und hat eine neue Liebe gefunden. Autorin und Regisseurin Hrund Gunnsteinsdottir hatte ihn eigentlich nur zum Interview gebeten, es stellte sich heraus, "dass ihr Vater mein Co-Trainer bei meiner ersten Länderspielreise mit der A-Nationalmannschaft war", erzählte er der "Welt" Anfang dieser Woche. Sie trafen sich zum Essen, "so hat es begonnen".

An der Seitenlinie weiter unter Strom

In Polen bei der WM erleben die Medienschaffenden nun einen runderneuerten Gislason. Er agiert nicht mehr kurz angebunden und schroff, stattdessen lächelt er und beantwortet die Fragen eloquent und verbindlich. Das änderte sich auch nach der ersten Pleite gegen Norwegen nicht, obwohl die Niederlage ärgerlich, weil vermeidbar war. Er hoffe, "dass wir uns in diesem Turnier noch einmal sehen", sagte Gislason mit breitem Grinsen zu seinem norwegischen Kollegen Jonas Wille. Ein Wiedersehen könnte es erst im Finale geben.

Die nächste Begegnung gegen den Titelfavoriten aus Frankreich bezeichnete der Bundestrainer als "das schwerstmögliche Spiel überhaupt. Da müssen wir einen überragenden Tag erwischen, um zu bestehen." Doch selbst ein Ausscheiden würde den Routinier nicht aus der Balance bringen. Seine Spieler und das nähere Umfeld berichten unisono, wie locker Gislason bei seiner Mission auftritt, und wie sehr das auf alle Beteiligten abfärbt. Erik Wudtke, der als Co-Trainer besonders eng mit dem Chef auf der Bank zusammenarbeitet, erlebt den Bundestrainer als "entspannt und in sich ruhend". Zumindest dann, wenn keine Spiele anstehen.

Während der 60 Minuten könne Gislason weiterhin zum isländischen Vulkan mutieren, aus dem es herausbricht, wenn die Dinge nicht nach seinen Vorstellungen laufen. "Da steht er unter Strom, aber das ist ja selbstverständlich", sagt Wudtke. Die Lockerheit, die er in der übrigen Zeit ausstrahle, sei "nicht gespielt. Er freut sich über die Dinge, die den Spielern gelingen." Die Souveränität des Alters spiegele sich in einem "ungeheuren Selbstbewusstsein wider. Und das strahlt wiederum auf die Mannschaft ab." Torhüter Andreas Wolff ergänzt, "dass es Alfred mit seiner unfassbaren Erfahrung schafft, uns eine gewisse Gelassenheit mitzugeben".

"Spielt, was ihr wollt"

Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, das, so Wudtke, "ein Schlüssel für die bisherigen Leistungen der Mannschaft ist". Das Wechselspiel gipfelte während der Partie gegen Argentinien in der Zwischenrunde, als die deutsche Auswahl ihren Gegner nach allen Regeln der Kunst auseinandernahm, in einer bemerkenswerten Ansage des Trainers während einer Auszeit: "Spielt, was Ihr wollt", teilte Gislason seinen Spielern mit. Ein anarchistischer Ansatz, der früher in dieser Form undenkbar gewesen wäre. Einer allerdings, den gar nicht alle hatten hören sollen, so Gislason in der "Welt": "Ich hatte aber vergessen, dass ein Mikro da ist. Das passiert mir nicht oft." In diesem Moment, mit diesem komfortablen Vorsprung im Rücken, sei das der "größtmögliche Ausdruck von Vertrauen" gewesen, berichtet Wudtke. Frei nach dem Motto: "Jungs, Ihr seid in einem Flow und spielt so gut, dass Euch sowieso alles gelingt."

Rückraumspieler Paul Drux ist darüber hinaus aufgefallen, "dass Alfred hier sein erstes großes Turnier als Bundestrainer erlebt, bei dem es wirklich nur um Handball geht." Keine Spiele vor leeren Rängen, keine Chaostage wie bei der EM im vergangenen Jahr in Bratislava, als insgesamt 18 Coronafälle im Kader sämtliche Planungen über den Haufen warfen - einfach nur Abwehr, Angriff, Tempogegenstoß und zweite Welle. "Das tut uns allen gut", sagt der Profi von den Füchsen Berlin, diese Leichtigkeit des Seins strahle sein sportlicher Vorgesetzter "bei jeder Trainingseinheit aus". Im Herbst einer langen und ungemein erfolgreichen Trainerlaufbahn merke man Gislason an, "dass er besser abschalten und die Dinge genießen kann".

"Ein sehr, sehr glücklicher Bundestrainer"

Mehr zum Thema

Das Kraftzentrum des Trainers liegt vor den Toren Magdeburgs: Wendgräben, ein Ort, in dem gerade mal 32 Menschen wohnen. Hier kaufte Gislason mit seiner Frau Kara-Gudrun vor mehr als 20 Jahren einen brachliegenden Hof, der so heruntergekommen war, dass die Bäume durch das Dach wuchsen. Heute ist das Domizil im englischen Landhausstil ein echtes Schmuckstück und zudem ein Biotop, in das sich Gislason zurückzieht, um aufzutanken: "Hier habe ich meine Ruhe, so ähnlich wie auf Island", berichtete er der "Welt am Sonntag". "Die Gegend rund um den Hof ist ein Naturschutzgebiet, es ist alles sehr schön. Genauso wie ich das haben möchte."

Auch bei der WM läuft es bislang fast nach Wunsch. Die Niederlage gegen Norwegen ärgerte Gislason zwar, weil er im Viertelfinale lieber gegen Spanien gespielt hätte. Ob diese Partie tatsächlich einfacher wäre, ist längst nicht sicher. Nun muss das DHB-Team gegen den Olympiasieger und Rekordweltmeister Frankreich bestehen. Ob seine neue Gelassenheit anhält, bleibt abzuwarten. Vorher sagte er: "Ich bin ein sehr, sehr glücklicher Bundestrainer."

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen