Die DFB-Elf in der Einzelkritik Goretzkas Genie und Wagners Wahnsinn
09.10.2017, 05:29 Uhr
Wagner und Goretzka bejubeln das 2:1.
(Foto: dpa)
Zehn Spiele, zehn Siege: Bundestrainer Joachim Löw maximalrotiert die deutsche Fußball-Nationalmannschaft gegen Aserbaidschan zum ergebnissouveränen WM-Quali-Abschluss. Allerdings zeigt das Team auch Abwehrdrama.
Irgendwann nach Minute 70 hatten die 34.613 Zuschauer im legendären Fritz-Walter-Stadion auf dem Betzenberg in Kaiserslautern großzügig und gnädig vergessen, was ihnen die deutsche Fußball-Nationalmannschaft eine knappe Stunde lang angetan hatte, an diesem Sonntagabend, in diesem letzten WM-Qualifikationsspiel gegen diese Aserbaidschaner. Sie hatte zwar gewonnen, mit 5:1 dank Toren von Leon Goretzka (8./66. Minute), Sandro Wagner (54.), Antonio Rüdiger (64.) und Emre Can (81.) sowie dem Gegentreffer von 1:1 Ramil Sheydajew (34.), aber sie wandelte, so bizarr das klingt, mit ihrem Lirum-Larum-Slapstick doch einige Zeit bedenklich an einer tüchtigen Blamage. Egal.
Tore: 1:0 Goretzka (8.), 1:1 Sheydaev (34.), 2:1 Wagner (54.), 3:1 Hüseynov (64., Eigentor), 4:1 Goretzka (66.), 5:1 Can (81.)
Deutschland: Leno - Kimmich, Mustafi (36. Ginter), Süle (22. Rüdiger) - Can, Goretzka - Brandt, Müller (70. Younes), Sané - Wagner, Stindl. - Trainer: Löw
Aserbaidschan: Agajew - Mirsabekow, Badavi Hüsejnow, Abissow, Chalilsade - Garajew - Ismailow (77. Qurbanov), Amirgulijew, Richard, Javid Hüsejnow (69. Nazarov) - Sheydaev (87. Aleskerov). - Trainer: Prosinecki
Schiedsrichter: Andris Treimanis (Lettland)
Zuschauer: 37.613 in Kaiserslautern
Wer eine Stunde Abwehrdrama und Angriffs-Langeweile weitgehend ruhig und gelassen und ohne Pfiffe erträgt, der darf die späte Erlösung dann auch mit einer Welle feiern (beim heimischen FCK kommt das ja mittlerweile auch eher selten vor). Und ein bisschen was, gab's ja tatsächlich zu feiern: Nämlich den Quali-Rekord mit dem zehnten Sieg im zehnten Spiel. Das hatten zwar auch die Spanier schon einmal geschafft, aber eben nicht mit einem beeindruckenden Torverhältnis von plus 39 - dem besten der Geschichte.
Da setzte dann auch beim Bundestrainer der Großzügig-und-gnädig-Effekt ein. Denn Joachim Löw wollte viel lieber über das große Ganze reden und weniger über das kleine Unschöne in Halbzeit eins. "Ich möchte erstmal ein großes Kompliment an alle Spieler richten, die bei der Qualifikation dabei waren", sagt er. "Zehn Siege in zehn Spielen zeigen, dass die Mannschaft immer die Spannung und die Konzentration hoch gehalten hat. Das ist nicht selbstverständlich." Und stimmt für den Abend in Kaiserslautern auch nicht so ganz. Aber es war schließlich auch so: "Wir haben in der Konstellation noch nicht zusammen gespielt. Das hat man am Anfang gemerkt. Wir hatten viele junge Spieler auf dem Platz, die brauchen noch etwas Zeit. Die zweite Halbzeit war gut." Sagen wir es so: Sie war besser. Sie war sogar wirklich viel besser. Aber das war ja auch nicht schwer. Die deutschen Spieler in der Einzelkritik:
Bernd Leno (25 Jahre, sechstes Länderspiel): Was aus Bayern Münchens Alleskönnerwelttorwart Manuel Neuer wird, wissen wir nicht. Er ja irgendwie auch nicht. Außer, dass die Wiederherstellung seines kaputten Fußes bis zur maximalen Wettbewerbshärte noch bis zu einem halben Jahr dauern kann. Und auch wenn das den Bundestrainer noch nicht nervös macht, so checkt er gerade mal die Alternativen. Als erste Option steht Marc-André ter Stegen bereit. Den findet Löw mittlerweile richtig spitze. Diesen Status möchte auch Bernd Leno erreichen. Als aktuelle Nummer drei (mit Neuer) oder erster Ersatzmann (ohne Neuer) gilt der Leverkusener eigentlich als sicherer Kandidat für den WM-Kader. Doch mit jedem Länderspiel, das er auf dem Feld bestreitet, sinken seine Chancen. Klingt bizarr, ist es auch. Aber nach seinem akuten Flutschfinger-Anfall beim Confed-Cup gegen Australien (3:2), wackelte Leno auch gegen Aserbaidschan wie ein Lämmerschwanz. Sah beim Gegentor zum zwischenzeitlichen Ausgleich ganz schlecht aus, als ihm der Ball an der rechten Seite des Oberkörpers vorbeiflutschte. Sah auch schlecht aus, wenn seine Vorderleute ihn als Notnagel für ihr missglücktes Aufbauspiel missbrauchten. Allerdings: Mindestens je ein Zuspiel von Niklas Süle und Shkodran Mustafi grenzten an Mobbing.
Joshua Kimmich (22, 24. Länderspiel): Nur noch Berti Vogts ist besser als der kleine Bayern-Profi. Klingt ein bisschen witzig, gerade für Menschen jüngeren Alters, denn die kennen den Berti, der in Kaiserslautern als Ehrengast vorbeischaute, als Fußballer nicht, nur als weltbummelnden Trainer (Kuwait, Schottland, Nigeria, Aserbaidschan), als Interviewexperten mit glockenheller Stimme und vielleicht noch als EM-Coach der deutschen Elf 1996. Nun, alle Menschen jüngeren Alters können beruhigt sein: Der Berti der war schon ein richtig Guter, weltklasse und Weltmeister sogar und spielte deswegen auch immer. Zum Beispiel 36 Mal in Serie über 90 Minuten für Deutschland. Kimmich steht aktuell bei 23 Spielen und ist damit zwei besser (oder wie Sie es nennen wollen) als "Kaiser" Franz Beckenbauer. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass der "Mini-Kaiser" auch den "Terrier", also Vogts, noch abläuft. Denn laut Bundestrainer ist Kimmich der einzige Außenverteidiger des Landes, der international richtig super ist. Während der Gefeierte sich zuletzt Komplimente für Superflanken und Supertore abholen durfte, verdiente er sich gegen Aserbaidschan das Lob auch noch für hochwirksame Kärcherarbeit. Die nämlich galt es dringend zu leisten. Denn seine Nebenmänner in der Dreierkette, die Kollegen Süle und Mustafi, argumentierten sich ja mit ihrer Performance aus dem engeren WM-Aufgebot. Kimmich war also damit beschäftigt, Patzer zu reparieren und weitere zu verhindern. Das machte er prima. Ach ja, die Ecke zum 3:1 durch Rüdiger schoss er auch, seine neunte Torvorlage.
Niklas Süle (22, siebtes Länderspiel): Ob er froh ist, wenn er nun nach den Länderspieltagen zurück nach München zum FC Bayern muss? Keine Ahnung, werden wir sehen. Fakt ist: Unter Ex-Coach Carlo Ancelotti war der Innenverteidiger-Youngster so etwas wie ein Stammspieler. Auch wenn es den Stammspieler an sich beim Maestro ja nicht gab. Süle indes spielte viel und meistens gut. Hätte er diese Form mal mit nach Kaiserslautern gebracht. Aber spätestens seit Saisonbeginn und Lothar Matthäus wissen wir ja: Wäre, wäre Fahrradkette. Sei's drum: Das siebte Länderspiel der jungen Abwehrkante war 22 Minuten lang völlig verkorkst: Fehlpässe, Stellungsfehler und fahriges Zweikampfverhalten. Allerdings gibt es bei Süle ein erklärliches "Aber" zur schwachen Leistung: Bereits nach sechs Minuten hatte er sich so vertreten, dass er Schmerzen hatte - und schnell erlöst wurde. Ab Minute 22, Antonio Rüdiger (24, 20. Länderspiel): Erst spielte Rüdiger wie Süle - also nicht gut-, verteidigte vor dem Ausgleich ganz schlecht. Später spielte Rüdiger wie Rüdiger - also meistens souverän mit ein paar kleineren Unsicherheiten. Traf per Kopf zum 3:1 und war so der große Versöhner zwischen wildgewordener Casting-Crew und den Zuschauern.
Shkodran Mustafi (25, 20. Länderspiel): Er hat etwas geschafft, was viele andere Spieler nicht schafften. Er brachte den Bundestrainer in Minute 21 dazu, seine Coaching-Zone einigermaßen weit zu verlassen und mit dem Zeigefinger zu fuchteln. Der Grund allerdings war kein Guter. Der sehr nervöse Mustafi hatte in höchster Bedrängnis im Strafraum einen wilden Pass auf Leno gespielt und ihn damit in noch größere Bedrängnis gebracht. Weil die Aserbaidschaner mit so viel Slapstick nicht gerechnet hatten, ließen sie sich zunächst bloß anschießen, statt etwas Feines für sich daraus zu kreieren. Das gelang ihnen schließlich in der 34. Minute – und wieder war der Arsenal-Profi beteiligt, als er einem langen Ball hinterhersprinten wollte und sich dabei am Oberschenkel verletzte. Gegenspieler Ramil Sheydaev, der an der Verletzung unbeteiligt war, rannte davon, vernaschte noch kurz Rüdiger und Leno und traf zum verdienten Ausgleich. Ab 34. Minute, Matthias Ginter (23, 16. Länderspiel): Brachte die dringend benötigte Sachlichkeit in die höchst alberne Abwehr. Das er kaum mehr machte, ist dem Gladbacher maximal hoch anzurechnen.
Leon Goretzka (22, zwölftes Länderspiel): Der VfL Bochum hat am Samstag mit großer Mehrheit und ein wenig Protest die Ausgliederung seiner Profiabteilung beschlossen. Ob den Ur-Bochumer das besonders juckt? Eher nicht. Denn der VfL spielt ja in Liga zwei und das aktuell nicht so gut. Vielmehr ist es bei Goretzka so: Er möchte gerne in die Champions League. Das hat er vor dem Spiel gegen Aserbaidschan betont. Das kann nun Folgendes heißen: Er glaubt fest daran, dass sein aktueller Arbeitgeber Schalke eine überraschend überragende Saison spielt. Oder dass er im Sommer zum FC Bayern wechselt. Die nämlich wollen ihn dem Vernehmen nach unbedingt haben - und werden sich dank Jupp Heynckes am Saisonende auch auf einem Platz in der Bundesliga einfinden, der das möglich macht. International, konkret für die deutsche Nationalmannschaft, ist der Schalker indes jetzt schon absolut unverzichtbar, kann nämlich als einziger Ecken per Hacke in den Fasttorwinkel nieten. Kann's aber auch Karo einfach, wie beim 4:1, als er eine Hereingabe von Leroy Sané lässig ins Tor abfälschte.
Emre Can (23, 18. Länderspiel): Wenn Toni Kroos einmal einen schlechten Tag hat (kommt nicht so oft vor), dann spielt er in der Regel immer noch viel besser als fast alle schlechten Fußballer an einem guten oder gar sehr guten Tag. Und wenn es wirklich fürchterlich ist (kommt nie vor), dann gibt es im deutschen Team noch Sebastian Rudy, den belächelten Bessermacher des FC Bayern. Für den etwa gleiches gilt. Wenn aber beide Ordnungswächter des deutschen Fußballs mal nicht Schicht schieben, was dann? Emre Can? Nun, eingeschränkt. Der Liverpooler ist eher der Typ handfester Anpacker mit tüchtig Pfeffer im Fuß. Zeigte das auch bei seinem Distanzhammer zum 5:1. Tut sich mit der alleinigen Organisation des Aufbauspiels schwer, ist und bleibt aber ein prima Adjudant.
Julian Brandt (21, zwölftes Länderspiel): Hatte an diesem Abend beim Bundestrainer offenbar nicht richtig zugehört. Der Leverkusener spielte gefühlt jeden (was sicher nicht stimmt), mindestens also aber jeden zweiten Ball in den Rücken des eigenen Mannes. Löw sagte später in der Fehleranalyse: "Wir haben den Ball zu oft in den Rücken gespielt." Deswegen war auch das Tempo weg. Was ja eigentlich die große Stärke des Leverkuseners ist. Brachte trotzdem ein paar gute Flanken ins Zentrum. Zum Beispiel die zum 2:1 durch Wagner.

Leroy Sané ist nicht nur schnellster Spieler der Premier League, sondern auch fast so schnell wie Usain Bolt zu besten Zeiten.
(Foto: imago/Thomas Frey)
Leroy Sané (21, achtes Länderspiel): Der Flügelflitzer in Diensten Manchester Citys ist der schnellste Spieler der Premier League ever. Zumindest seit 2014, denn erst dann begann die Aufzeichnung. Egal. Raste vergangene Woche mit 35,48 km/h über den Platz, war damit 2,1 km/h langsamer als Usain Bolt bei seinem 100-Meter-Weltrekord 2009 (Schnitt von 37,58 km/h). Raste am Sonntagabend mehrmals ebenso schnell über den Platz in Kaiserslautern und sah dabei auch noch verdammt gut aus. Nicht wegen seiner offenen Haare. Ein Beinschuss hier, ein Hackentrick (er wurde insgesamt ein wenig zu oft bemüht) dort. Traf fast immer die richtige, also die einfache Entscheidung - außer kurz vor der Pause, als er den Ball nach Ablage von Wagner beinahe ein wenig lustlos am Kasten der Osteuropäer vorbeinagelte.
Thomas Müller (28, 89. Länderspiel): Kapitän und diesmal sicherer im Umgang mit der zickigen Armbinde. Fiel der Münchner dadurch in Nordirland noch regelmäßig auf, so war er gegen Aserbaidschan kaum mehr wahrzunehmen. Wenn ein Spiel - und das ist immer noch so - 90 Minuten dauert, für Thomas Müller waren es diesmal nur 69, dann vergingen diesmal ganz viele davon ohne nennenswerte Aktion des bayrischen Raumdeuters. Drei allerdings waren beeindruckend: zwei bärenstarke Flanken in der ersten Halbzeit auf die Sturmwucht Wagner und eine Ballbehauptung per Grätsche aus dem Vollsprint an der Seitenlinie. Bemühte sich indes auch intensiv darum, seine hypernervösen Gefolgsleute zu beruhigen, schaute dazu gelegentlich auch mal in der Abwehr vorbei. Ab Minute 69, Amin Younes (24, 5. Länderspiel): Spielte einst beim 1. FC Kaiserslautern ohne bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Spielt mittlerweile für Ajax Amsterdam und beeindruckt dort offenbar den Nationaltrainer. Kehrte nun in die Pfalz zurück, kringelte sich ein paar Mal mit dem Ball und reist ohne weiteren Eindruck ab.
Lars Stindl (29, neuntes Länderspiel): Superfleißig. Intelligent im Anlaufen. Traf in der 61. Minute den Pfosten nachdem er eine verunglückte Müller-Flanke einfach aus der Luft fischte und verarbeitete. War gefühlt überall und nirgends. Aber immer in der Nähe von Wagner. Der Mönchengladbacher hatte das Pech, dass sein Nebenmann in allen Ausschlägen, also den guten wie schlechten, präsenter war.
Sandro Wagner (29, fünftes Länderspiel): War nach dem Nordirlandspiel offiziell so gut wie Dieter Hoeneß. Hatte da auch vier Tore nach vier Länderspielen. Ist nach dem Spiel gegen Aserbaidschan besser als Dieter Hoeneß. Hat nämlich nun fünf Tore in fünf Spielen erzielt und in absehbarer Zeit wird er auch die legendäre Landspielmarke vom Hoeneßdieter überbieten - es waren sechs. Denn mit seiner wahnsinnigen Wucht ist Wagner die zweite neue Kompetenz der Löw-Elf - neben der Hackenecke. Der Hoffenheimer ist, so sagen Trainer gerne, über 90 Minuten nicht komplett aus dem Spiel zu nehmen. Was vor allem daran liegt, dass er seinen Körper - ganz gleich welchen Teil - in jede Hereingabe haut. Und das sind ja in Zeiten von Brandt und Kimmich ziemlich viele. Nicht immer sieht das elegant aus, wie bei seiner Schuss-Pfosten-Abpraller-Knie-Aus-Aktion (31.). Aber meistens ist es gefährlich, wie bei seinem Versuch den Keeper per Kopfballrakete gleich mit hinter die Linie zu drücken (37.) oder aber beim erlösenden 2:1 (54.), als er ebenfalls per Kopfballrakete abschloss. Muss sich gelegentlich den Vorwurf anhören, nur gegen die Kleinen zu treffen. Stimmt auch, liegt aber ganz einfach daran, dass er nur gegen die Kleinen spielen darf: San Marino (3 Tore), Dänemark, Australien, Nordirland (1), Aserbaidschan (1). So oder so: Diesen Wahnsinn braucht der Bundestrainer.
Quelle: ntv.de