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Kyrie Irvings Wiedergutmachung Der Verschwörungsanhänger, der die NBA dominiert

Nicht zu stoppen, wenn er losdribbelt: Kyrie Irving.

Nicht zu stoppen, wenn er losdribbelt: Kyrie Irving.

(Foto: AP)

Gescholten, geläutert, gereift: Kyrie Irving ist in Dallas wie Phönix aus der Asche auferstanden. Nach Jahren voller Kontroversen und nicht enden wollendem Drama hat der Inselbegabte in Texas eine sportliche Heimat gefunden. Jetzt will er mit den Mavericks den Titel holen.

Es ist der Albtraum eines jeden NBA-Verteidigers: Alleine auf einer Insel, gegen Kyrie Irving mit dem Ball in der Hand. Der beste Dribbler aller Zeiten hatte PJ Tucker auf dem Flügel isoliert und legte sich den in die Jahre gekommenen Boliden der L.A. Clippers langsam zurecht. Zwei Mal durch die Beine, links, rechts, stop, go, dann noch ein Double-Crossover, hinter den Halbkreis in die rechte Ecke, wo er den Dreier trotz Foul versenkte. Irving ging zu Boden, wo er von der gesamten Mavs-Bank belagert und frenetisch gefeiert wurde.

20.625 Fans im American Airlines Center standen Kopf. Es war der finale Nagel in den Clippers-Sarg. Und das dicke Ausrufezeichen hinter ein brillantes Spiel sechs, das zur großen "Kai"-Show wurde: 30 Punkte, fünf Dreier, unzählige Highlight-Plays, ein Big Shot nach dem anderen. Die Mavericks gewannen 114:101 und machten den Sack zu, in ihrer Erstrundenserie gegen Los Angeles. Mit 4:2 Siegen zog Dallas in die zweite Playoff-Runde ein - erst zum zweiten Mal seit Dirk Nowitzkis Titelgewinn 2011.

"Er hat die Mamba-Mentalität"

Während ein angeschlagener Luka Doncic strauchelte, lieferte Irving Abend für Abend ab, war der Serien-MVP. Drei Mal in sechs Partien 30 Zähler oder mehr. Ein 40-Point-Game. Im Schnitt 27 Punkte, sechs Rebounds und fünf Assists pro Spiel. Dazu weiter ungeschlagen in "Elimination Games" in seiner Karriere - genau dafür hatten ihn die Mavs vor etwas mehr als einem Jahr verpflichtet. "Unfassbar, das war wie im Videospiel", erklärte PJ Washington anschließend. "Er hat die Mamba-Mentalität. Einfach etwas Besonderes. Ich bin froh, dass er in meinem Team ist."

Vergangene Nacht dann ein ganz anderer, nicht minder entscheidender Irving, beim 119:110 Auswärtssieg in Oklahoma City in Spiel zwei der Conference Semifinals. Obwohl der Mavs-Guard nur neun Punkte erzielte, brillierte er mit elf Assists, zwei Steals, zwei Blocks und zeitweise überragender Defensivarbeit, neben seinen gewohnten Playmaking- und Führungsqualitäten. "Er kann einfach alles auf dem Court", sagt sein Backcourt-Partner, Luka Doncic. "Und seine Defense ist schon die gesamten Playoffs hindurch einfach großartig. Er ist unglaublich für uns, an beiden Enden des Parketts. Er hilft allen. Es ist fantastisch, ihn hier in unserem Team zu haben und so viel von ihm zu lernen."

Legendärer Titelgewinn in Cleveland

Der gebürtige Australier stürmte 2011 als Nummer eins Pick und Rookie des Jahres in die Liga, etablierte sich in Windeseile als einer der spektakulärsten Spieler der Welt. Seine Ballbehandlung ist legendär, ebenso wie seine Fähigkeit, trotz seiner nur 1,88 Meter Körpergröße auch unter Riesen hochprozentig abzuschließen. Der "Ankletaker", wie Irving aufgrund seiner brutalen Dribbeleinlagen genannt wird, wurde 2014 All-Star Game MVP - nur wenige Monate vor LeBron James' Rückkehr nach Cleveland.

Gemeinsam führte die neu formierte "Big Three" (James, Irving, Kevin Love) die Cavaliers zurück an die Spitze der Eastern Conference und drei Mal in Folge in die NBA Finals. 2015 erzielte Irving einen damaligen Franchise-Rekord (57 Punkte), später dann 30 Zähler in seinem allerersten Playoff-Spiel überhaupt. Zum Auftakt der NBA Finals gegen Golden State brach er sich das Kniegelenk, Cleveland verlor in sechs Partien.

Im Folgejahr brauste Cleveland zur Nummer eins im Osten und mit 12:2 Siegen durch die Playoffs, im Finale wartete einmal mehr Golden State. Die Cavaliers machten als ersten Team in der NBA-Geschichte einen 1:3 Rückstand im Endspiel wett und sorgten für den ersten Titelgewinn eines Profiteams in Cleveland in mehr als 50 Jahren. Irving und James übernahmen mit jeweils 41 Punkten in Spiel fünf. Im alles entscheidenden Game Seven traf Irving den entscheidenden Dreier zum Sieg.

"Die Erde ist flach", Covid und weiterer Nonsens

Nur ein Jahr nach dem sensationellem Titel und dem wichtigsten Treffer in der Historie des Klubs, begann für ihn eine öffentliche Talfahrt sondergleichen. In einem Podcast mit zwei seiner Teamkollegen outete sich Irving 2017 als "Flat Earther" - und damit als größter Verschwörungsanhänger der Liga. Bei einer Medienrunde während des All-Star Wochenendes wiederholte er seine Ansichten und berief sich auf "das verzerrte und verlogene Bildungssystem, das Leute in die Irre führen will." Wenige Monate später machte Irving kehrt, er habe "nur Spaß" gemacht, wisse aber "nicht mit Sicherheit", ob die Erde tatsächlich rund sei. Zwar entschuldigte er sich ein Jahr später öffentlich und unmissverständlich für seine "ignoranten Aussagen", aber der Schaden war angerichtet.

Sein Ruf war ruiniert, zumal er in der Zwischenzeit auch einen Trade aus Cleveland gefordert hatte - um nicht mehr an der Seite von LeBron James spielen zu müssen. Cavs-Fans verbrannten sein Trikot, Irving wurde zu den Boston Celtics geschickt. Seinem neuen Team versprach er umgehend: "Ich bin hier glücklich und will irgendwann meinen Namen unter all den Celtics-Legenden genannt wissen. Hier ist perfekt." Trotz gutem Start enttäuschten die Celtics zwei Jahre in Folge. Irvings Blick wanderte weiter, nach Brooklyn, wo er 2019 einen neuen Vierjahresdeal unterschrieb, um mit seinen guten Freunden Kevin Durant und DeAndre Jordan ein neues Superteam zu kreieren, zu dem später auch James Harden hinzustoßen sollte.

Viren zur Kontrolle der Menschheit freigesetzt

In Boston avancierte er über Nacht zum Paria, wird seither gnadenlos ausgebuht. 2021 wurde ein Fan verhaftet und bekam lebenslanges Hausverbot im TD Garden, weil er Irving mit einer Flasche beworfen hatte. Irving machte aus seiner Antipathie gegenüber der häufig als rassistisch bezeichneten Stadt in Massachusetts keinen Hehl, zeigte beleidigenden Fans während der Playoffs 2022 unverhohlen den Mittelfinger.

Es half nicht, dass er auch in Brooklyn von einem Fettnapf in den nächsten trat. 2021 verpasste er die halbe Saison, weil er sich nicht gegen Covid impfen lassen wollte. Dummerweise bestand in New York City Impfpflicht, die Nets konnten Irving demnach nur bei Auswärtspartien einsetzen, ehe die Bestimmungen gelockert wurden. Im September 2022 teilte er auf Instagram ein 20 Jahre altes Video des rechtsradikalen Verschwörungsverbreiters Alex Jones, in dem es um Geheimbunde und korrupte Imperien ging, und darum, dass Viren zur Kontrolle der Menschheit freigesetzt würden. Kritiker wie Kareem Abdul-Jabbar verurteilten den Beitrag auf Schärfste.

Gescholten, geläutert, gereift - Wiedergutmachung in Dallas

Nur wenige Wochen später schockte Irving erneut, als er einen antisemitischen Film ("From Hebrews to Negroes - Wake Up Black America") via Twitter bewarb, der den Holocaust leugnet, Juden als "teuflisch" bezeichnet und unter anderem Adolf Hitler zitiert. Zunächst nonkonformistisch, löschte Irving den Tweet drei Tage später, blieb aber bei kryptischen Botschaften und verwies auf die Verfolgung und Unterdrückung von Afroamerikanern im Laufe der Geschichte. Eine Entschuldigung blieb tagelang aus, die Nets suspendierten Irving auf unbestimmte Zeit, während der Film an die Spitze der Amazon-Verkäufer-Charts kletterte. Seine offizielle Abbitte kam nach knapp einer Woche - viel zu spät, um das zerrüttete Verhältnis zwischen ihm und den Nets noch zu kitten. Nike terminierte den Schuh-Deal mit Irving und blies die Veröffentlichung des "Kyrie 8" über Nacht ab. Weil sich der Klub weigerte, ihm eine Vertragsverlängerung zu offerieren, forderte Irving einen Trade; Brooklyn einigte sich schließlich mit den Mavericks im Februar 2023.

In Dallas, an der Seite zweier alter Weggefährten, passierte etwas Außergewöhnliches: Irving reifte zum verantwortungsbewussten Führungsspieler heran. Head Coach Jason Kidd und Nico Harrison, Präsident und General Manager des Klubs, kennen Irving schon lange und waren die Hauptgründe, weshalb der Deal für den talentierten Alleskönner überhaupt zustande kam. Neben Megastar Luka Doncic spielt Irving seine ideale Rolle als Co-Kreator, dessen Effektivität und Effizienz nur von seinen genialen Geistesblitzen überragt wird. Sein Speed, seine Erfahrung und seine Abgeklärtheit trotz Chaos-stiftender Art machen ihn zur verheerenden zweiten Option, zur tödlichen Variablen in entscheidenden Phasen des Spiels. Die Mavs-Offensive performt dank "Uncle Drew" sowohl mit als auch ohne Doncic auf absolutem Top-Niveau.

Aktivismus, Altruismus, Weisheit

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Nach Jahren voller Kontroversen und nicht enden wollendem Drama scheint Irving nicht nur eine sportliche Heimat gefunden zu haben. Der Familienvater hat für inneren Frieden gesorgt, und ist zu einem der absoluten Publikumslieblinge in Dallas geworden. Sein Aktivismus, Altruismus und seine Weisheit stehen heute mehr im Mittelpunkt als die selbstgefällig-ignorante Art, die ihn jahrelang ausgezeichnet hat. Güte und Gemeinschaft statt abschätziger Streitlust und Ego - der enigmatische Youngster scheint erwachsen geworden zu sein. Sportlich ist der NBA Champion, achtfache All-Star und zweifache Goldmedaillengewinner (WM 2014, Olympia 2016) ohnehin über alle Zweifel erhaben. Kann er die rundum erneuerten Mavericks zu ihrem größten Erfolg seit 2011 führen? Es wäre die spektakuläre Kulmination einer beispiellosen Rehabilitierung seiner öffentlichen Wahrnehmung.

"Ich bin heute viel verantwortungsbewusster mit allem, was ich täglich sage und tue", zeigt sich der 32-Jährige geläutert. "Als junger Mensch habe ich über all diese Dinge nicht viel nachgedacht, ich hatte nicht wirklich Ahnung, wer ich als Person überhaupt war. Das musste ich erst einmal herausfinden. Was man heute sieht, ist eine Version meiner Selbst, auf die ich stolz bin. Ich meditiere und bete und bin viel konstanter mit meinen täglichen Übungen, die mich erden und mich daran erinnern, wo ich herkomme und wer ich bin. Meine ganze Familien-Geschichte eben, und all die Dinge, die im täglichen Basketball-Geschäft untergingen. Ich glaube die Leute haben mich vorschnell verurteilt, ohne mich genau zu kennen. Das soll keine Kritik sein, denn das ist alles Teil des Erwachsenwerdens in dieser Welt und im Leben. Ich will der nächsten Generation zeigen, dass es möglich ist, durchs Feuer zu gehen und dennoch wie Phönix aus der Asche wieder aufzuerstehen."

Quelle: ntv.de

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