Sexismus, Übergriffe, Träume NFL-Cheerleader ringen mit Ausbeutung und American Dream
11.02.2024, 14:19 Uhr
Angela King (Mitte) gehörte zum ersten Cheerleading-Team der San Francisco 49ers in den 1980er-Jahren.
(Foto: Angela King)
Viele Frauen und Mädchen in den USA träumen von einer Karriere als NFL-Cheerleader und einem Auftritt beim Super Bowl. Doch hinter der Fassade herrschen teilweise üble Arbeitsbedingungen, Ausbeutung und Übergriffe. Die NFL tut wenig für Besserung, dabei stehen die Cheerleader für ein weltweites Problem.
"Damals, als wir das Spielfeld betraten, ahnte niemand das Ausmaß", sagt Angela King. "Uns war nicht klar, welche Geschichte wir schreiben würden. Dort vor dem Gebrüll von 70.000 Menschen zu tanzen, war einfach ein wahnsinniges Gefühl der Ehrfurcht. Ein Rausch." King gehörte 1983 zum ersten Cheerleading-Team der San Francisco 49ers und spricht mit ntv.de über einen Job, der nicht nur ihr Leben veränderte.
Denn 40 Jahre später gehören Cheerleader zum American Football wie Touchdowns, Hotdogs und der Super Bowl. Sie sind US-amerikanische Ikonen, bieten die perfekte Show mit einem strahlenden Lächeln, aufreizend gekleideten Körpern in knappen, engen Outfits und funkelnden Pom-Poms. So leiten sie den Beifall des Publikums an und unterhalten es. In den USA sind Cheerleader nicht weniger als ein kulturelles Phänomen.

Angela King trägt in Las Vegas ihre Super-Bowl-Ringe, die sie für ihre Cheerleading-Auftritte bei den 49ers erhalten hat.
(Foto: David Bedürftig)
Doch hinter der Fassade herrschen teilweise üble Arbeitsbedingungen, Ausbeutung und Übergriffe. Meistens verschwinden Kritik und Klagen unbemerkt unter dem Radar - und die Show geht weiter. The show must go on. So auch an diesem Sonntag beim Super Bowl in Las Vegas, eine Stadt, die wie keine Zweite für dieses Motto steht. Und die NFL tut bis heute zu wenig für Besserung, manche Klub-Führungskraft, die für die Übeltaten verantwortlich ist, sitzt klatschend im Publikum.
Cheerleader wollen faire und sichere Bedingungen
"Cheerleader sind eine Markenerweiterung für das Team, sie machen Werbung und sind quasi Teil der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit", sagt die heute 58-jährige King, die später auch NFL-Cheerleading-Teams coachte. "Für die 49ers waren wir auch Botschafter, haben Wohltätigkeitsorganisationen unterstützt, waren in Fernsehshows und hatten eine große Wirkung in der Gemeinde." Doch trotz enorm großer Sichtbarkeit und eines Status als vitaler und profitabler Bestandteil der reichsten Sportliga der Welt, können viele monetär vom milliardenschweren Football-Business nur wenig profitieren.
Zum Cheerleading gibt es viele Meinungen und die Tanz-Auftritte vor den Fans im Stadion können als ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit gelesen werden. Als eine Art Trophäisierung und möglicherweise immanent sexistisch. "In der Tanzwelt denkt niemand darüber nach. Es geht einfach um Frauen, die sich wohlfühlen und ihr Talent zur Schau stellen wollen", erklärt King. Außerdem biete der Job Frauen "viele Möglichkeiten", einige würden darüber etwa in die NFL-Berichterstattung rutschen: "Es ist ein Sprungbrett für das Verständnis von Professionalität und für die Integration von Frauen im Sport."
Spricht man in Las Vegas auch mit Cheerleadern, verneinen sie allesamt, dass die eigene Zurschaustellung des Körpers als eine Art Sex-Objekt der Markenkern ihres Jobs sei. Sie sind Frauen mit großen Träumen, wollen tanzen und sich einen Platz auf der für einen Tag größten Bühne der Welt dienen. Dafür bringen sie unzählige Opfer. Um das zu tun, was sie lieben und sich den Traum zu erfüllen, auf den Millionen von Cheerleadern an den Seitenlinien der Highschools und Universitäten in den USA hinfiebern.
Die Krux ist jedoch, dass es, egal welche Meinung man zu dem Thema hat, schlichtweg um Arbeitnehmerinnen geht, die unter fairen und sicheren Bedingungen arbeiten und fair entlohnt werden wollen: angemessene Bezahlung, Respekt und Gleichberechtigung statt Ausbeutung, Druck und Belästigung. Es ist und bleibt wichtig, die verzerrte Machtdynamik und die Ausbeutung, die in keinem Job und keiner Branche passieren sollte, zu kritisieren. Ihre Kämpfe dürfen nicht weniger ernst genommen werden, weil die dem Cheerleading innewohnende Weiblichkeit irgendetwas bei Betrachterinnen und Betrachtern auslöst. "Victim-Shaming" und "Victim-Blaming" müssen Cheerleader immer wieder erfahren. Allzu gerne wird versucht, sie so in unteren Rollen zu halten und ihnen etwa nach Beschwerden an den Kopf zu werfen, sie müssten diesen "sexistischen" Job schließlich nicht ausüben.
Sammelklage gegen NFL-Team
Cheerleader performen seit genau 70 der 104 Jahre, die die NFL existiert. Die Baltimore Colts machten 1954 den Anfang, die typischen Crop-Tops und Faltenröcke gab es aber erst knapp zwei Dekaden später. 1972 verwandelten die Dallas Cowboys ihre Cheerleader von züchtig gekleideten Highschool-Mädchen in Tänzerinnen mit Sex-Appeal. Die Truppe war ein sofortiger, wenn auch umstrittener Erfolg und andere Mannschaften zogen nach.
NFL-Profis begannen zu dieser Zeit stattliche Gehälter zu verdienen, aber die Cheerleader erhielten keine vergleichbare Entlohnung. Bis zum Ende der 1970er-Jahre arbeiteten einige von ihnen komplett unbezahlt. Die Dallas Cowboys zahlten ihnen erst ab den 1990ern mehr als 15 Dollar pro Spiel. King "hatte Glück" und wurde von Anfang an für alle ihre Auftritte bezahlt, was in jungen Jahren auch "gutes Geld" gewesen sein.
Allgemein fand erst 2014 ein kleiner Umbruch statt, als die erste Sammelklage gegen ein NFL-Team (die Oakland Raiders, heute Las Vegas Raiders) bezüglich der Vergütung von Cheerleadern eingereicht wurde und den Vorwurf des Lohndiebstahls und der Geschlechterdiskriminierung erhob. Es folgten weitere Beschwerden, zehn der 26 NFL-Teams wurden über die Jahre mit Klagen wegen Lohndiebstahls, Belästigung, unsicherer Arbeitsbedingungen oder Diskriminierung konfrontiert. Seitdem heißt es, dass die meisten Teams nun sicherstellen, dass Cheerleader für jede geleistete Stunde bezahlt werden. Allerdings erhalten sie mutmaßlich nur den Mindestlohn (auf Bundesebene nur 7,25 Dollar pro Stunde).
NFL schweigt, Cheerleader unter Regeldruck
Die Liga stiehlt sich bei diesem Thema aus der Verantwortung, der Standpunkt ist, dass die Teams und nicht die Liga in der Verantwortung sind. NFL-Boss Roger Goodell hat sich vor einigen Jahren auf einer Pressekonferenz öffentlich geäußert und gesagt, dass er jedes Team dazu ermutigt, seine Angestellten fair zu bezahlen. Eine überaus undeutliche Formulierung. Dabei profitieren nicht nur die Teams durch Kalender oder Auftrittsgebühren monetär von den Frauen, auch die NFL präsentiert jedes Jahr ausgewählte Cheerleader beim Pro Bowl und erstellt Fotogalerien von ihnen für ihre Website.
Die NFL ließ eine Anfrage von ntv.de zur immer noch geringen Bezahlung und zu Plänen der Verbesserung der Lage für Cheerleader unbeantwortet. Alexander Steinforth, der NFL-Deutschland-Chef, sagt in Las Vegas zu ntv.de, dass das Thema bei ihm bisher nicht aufgepoppt sei und man keine Cheerleader beschäftige.
Cheerleader müssen sich teilweise absurden und strengen Regelkatalogen unterwerfen: Laut durchgesickerten Regeldokumenten, die 2018 der "New York Times" zugespielt wurden, sind für Cheerleader bei einigen Teams etwa das Tragen von Jogginghosen in der Öffentlichkeit, ein Gewicht von anderthalb Kilogramm über dem zuvor festgelegten "Idealgewicht" und ein Restaurantbesuch, wenn ein NFL-Profi oder eine Führungskraft vor Ort sind, verboten. Als 2014 fünf ehemalige Cheerleader die Buffalo Bills verklagten, legten sie dem Gericht ein zwölfseitiges Regelbuch vor: Es durfte demnach unter anderem niemals über Politik oder Religion gesprochen und die Genitalien durften nicht mit chemischen oder parfümierten Produkten gereinigt werden.
Kultur der sexuellen Belästigung
Seit ihrer Einführung erleiden Cheerleader zudem immer wieder sexuelle Übergriffe. King sagt, sie hatte Glück, dass ihr so etwas nie passiert ist, aber sie "applaudiert" den Frauen, die nach solch schwierigen Momenten "die Stärke haben, öffentlich zu sprechen". Zuletzt gab es Berichte über Führungskräfte der Vereine, die ihre Macht wiederholt missbraucht haben: von einem PR-Chef, der heimlich die Cheerleader in der Umkleide gefilmt haben soll, über Team-Bosse, die "Best-of"-Videos von aus Bikinis herausgerutschten Brustwarzen während Fotoshootings herumschickten - bis hin zu Mitarbeitern der Washington Commanders, die 2013 angeblich VIP-Logen-Besitzer und Sponsoren einluden, sich ein jährliches Bademoden-Kalender-Shooting anzusehen - ohne die Zustimmung der Cheerleader.
Meist wurde Stillschweigen gegen geheime Zahlungen vereinbart. Doch die Vorwürfe gegen den Besitzer der Commanders, Dan Snyder, sorgten für größeres Aufsehen und hatten weitreichende Folgen. 2020 deckte eine Analyse der "Washington Post" die im Verein weitverbreitete Kultur der sexuellen Belästigung und des verbalen Missbrauchs weiblicher Angestellter auf. Unter anderem waren Videos von Cheerleadern ohne ihre Zustimmung bei Bikini-Kalenderaufnahmen gefilmt worden.
Aber nicht die Bosse mussten gehen, sondern die Cheerleader. Bereits sieben Monate nach dem "Post"-Bericht beendete die Commanders ohne Vorwarnung das Cheerleading-Programm. Die Info erhielten die Frauen durch ein 30 Minuten zuvor angekündigtes Zoom-Webinar, bei dem die Teilnehmer nicht sprechen konnten. Ein Schlag ins Gesicht von Hunderten von Frauen und ehemaligen Angestellten, die sich unter persönlichem Risiko bei der Zeitung gemeldet hatten, um über eine Kultur des Missbrauchs zu berichten.
Auch Deutschland hat ähnliche Probleme
Nach einer jahrelangen Untersuchung des Teams bestätigte die NFL, dass das Arbeitsumfeld der Organisation "höchst unprofessionell" war, mit häufigem "Mobbing und Einschüchterung", was zu einer "Kultur der Angst" führte. Snyder musste eine Geldstrafe zahlen, wusch gemeinsam mit der Liga seine Hände in Unschuld und durfte weitermachen. Vergangenen Sommer verkaufte er die Commanders für 6,05 Milliarden Dollar.
Am 11. Februar ist es so weit, das Mega-Spektakel des Jahres findet statt: der Super Bowl. RTL und RTL+ übertragen das Spiel zwischen den Kansas City Chiefs und den San Francisco 49ers sowie die Halbzeitshow mit Megastar Usher.
Der Kick-off erfolgt nach mitteleuropäischer Zeit in der Nacht von Sonntag auf Montag um 0:30 Uhr. Bereits ab 23.15 Uhr startet die Übertragung.
"Cheerleading hat an so viel Schwung und Popularität gewonnen", sagt Angela King, "das ist fabelhaft mitanzusehen." Und die Ehemalige hat recht, im TV, auf den Team-Kanälen der sozialen Medien, bei jeglichen Events rund um den Super Bowl in Las Vegas: Cheerleader sind mittlerweile omnipräsent.
Doch Cheerleader stehen auch stellvertretend dafür, wie weltweit viele Frauen und unterrepräsentierte Gruppen am Arbeitsplatz behandelt werden. Ihre Hürden in der NFL weisen auf das Problem als großes Ganzes hin: Dass die Sportligen überall auf der Erde die Rolle der Frauen oft immer noch ausklammern und das geschlechtsspezifische Lohngefälle verstärken. Selbstredend, dass etwa der Fußball in Deutschland dabei keine Ausnahme ist.
Quelle: ntv.de