Bombe, Amputation, Paralympics Nicht zum Überleben bestimmt gewesen
27.08.2021, 06:36 Uhr
Haven Faith Shepherd beim Training in den USA.
(Foto: picture alliance/AP Photo)
Eigentlich hätte Haven Faith Shepherd nicht überleben dürfen: Als 14 Monate altes Baby verliert sie nach einer Bombenattacke ihres Vaters beide Unterschenkel. Trotzdem wird Shepherd eine Weltklasse-Schwimmerin und kämpft heute um Medaillen und gegen Stereotype und Ausgrenzung.
Haven Faith Shepherd ist 14 Monate alt, als ihr Vater ins Zimmer stürmt und die Mutter des Säuglings und sich selbst an einen TNT-Sprengkörper schnallt. Das Baby hält er zwischen den Eltern - und lässt die Bombe hochgehen. Vater und Mutter sterben durch die Explosion sofort, Shepherd wird neun Meter weit aus der Behausung geschleudert. "Ich habe etwas so Dramatisches überlebt", sagt die heute 18-Jährige. "Ich sollte nicht leben."
Haven Faith Shepherd heißt damals noch Do Thi Thuy Phuong. Passenderweise bedeutet Phuong auf Deutsch übersetzt Phönix. Geboren wird sie am 10. März 2003 in der Provinz Quang Nam in Vietnam. Lokale Medien berichten nach der Bombenexplosion, ihre Mutter hätte herausgefunden, dass der Vater eine Zweitfamilie mit weiteren Kindern hatte. Als sie mit der Scheidung drohte, habe er beschlossen, das Leben der kompletten Familie zu beenden. Unter normalen Umständen hätte Shepherd sterben sollen an diesem Tag. Doch das Baby überlebt, auch wenn es verbrannt gefunden wird, mit Granatsplittern im Kopf, die Füße zerfetzt. Im kleinen vietnamesischen Dorf wird es anschließend "Wunderkind" gerufen.

Haven Faith Shepherd auf den Schenkeln ihrer Großmutter 2004 in Vietnam.
(Foto: picture alliance/AP Photo)
Shepherds Unterschenkel müssen unterhalb ihrer Knie amputiert werden, aber ihre Großeltern sind arm, können die Behandlung nicht selbst zahlen und sammeln Spenden. Im Oktober 2004 arrangieren Shelly und Rob Shepherd, Eltern von sechs Kindern in Missouri, USA, die Adoption des anderthalbjährigen Kindes für eine andere Familie in den USA. Sie bringen das Baby eigenhändig in die Staaten, verlieben sich auf dem Weg in das Mädchen und nehmen es nur ein paar Tage später bei sich auf, weil die anderen Adoptionseltern sich doch nicht als passend ansehen.
Shepherd will Menschen inspirieren
Haven Faith Shepherd (die Namen spiegeln die Religiosität der Familie wider, "haven" bedeutet auf Englisch Hafen oder Oase und "faith" Glaube; auch "heaven" für Himmel liegt nah) wächst im ländlichen Mittleren Westen der USA auf und erhält Prothesen für beide Unterschenkel. Ihre Geschwister treiben viel Sport, sie schaut als Kind bei Leichtathletik-Wettbewerben, Volleyball- und Basketball-Spielen zu. Shepherd versucht es auch mit Laufen, aber der Schweiß an den Beinen lässt ihre Prothesen rutschen. Also schlägt ihre neue Mutter irgendwann Schwimmen vor.
Als Zehnjährige beginnt Shepherd mit dem Training im Wasser. Ihr Talent wird schnell erkannt. Zwei Jahre später schließt sie sich einem professionellen Schwimmverein an, trainiert das ganze Jahr über zweimal täglich. Mit 13 Jahren nimmt sich der Teenager vor, eine paralympische Athletin zu werden und schafft es ins Nachwuchsteam der paralympischen Schwimmer. Fünf Jahre später ist Shepherd Teil des Team USA und startet mit den weiteren Weltklasse-Athletinnen bei den Paralympics in Tokio über 200 Meter Lagen heute Nacht (erster Vorlauf um 03.43 Uhr MESZ) und über 100 Meter Brust am kommenden Mittwoch.
Doch Shepherd ist mehr als eine Athletin. Auf Instagram folgen der 18-Jährigen bereits 33.000 Menschen, sie selbst beschreibt sich dort als: Bombenüberlebende, Amputierte, Paralympionikin, Schwimmerin, Model und Rednerin. Shepherd will Vorbild sein. Will Menschen inspirieren, Vielfalt lobpreisen und mit Stereotypen aufräumen. Sie arbeitet als Botschafterin für andere Amputierte und besucht Amputierte beim Militär, spricht in Schulen und betont die Vorteile des Andersseins.
"Alle haben Beulen und Flecken"
Und die 18-Jährige weiß sich in Szene zu setzen. Etwa bei Mode-Aufnahmen für Tommy Hilfiger, Gymshark oder Jolyn Swimwear. "Ich habe auch mit dem Modeln angefangen, nachdem ich gemerkt habe, dass viele Menschen mit ihrem Aussehen nicht zufrieden sind", sagt die Schwimmerin. Sie hofft, anderen Menschen mit Behinderungen zeigen zu können, dass sie ihre Einzigartigkeit annehmen und das Leben in vollen Zügen genießen können und sollten. "Wenn ich mich wohlfühle, können sie das auch." Den perfekten Körper gebe es doch ohnehin nur selten. "Wenn man sich umschaut", sagt Shepherd, "haben doch alle Beulen und Flecken. Wir sind alle nicht perfekt."
Die Heranwachsende zeigt, dass es in Ordnung ist, anders als die Masse auszusehen. Shepherd versteckt ihre Prothesen nicht, sondern feiert sie. Macht sie zu ihrer Stärke. Posiert damit stolz auf unzähligen Instagram-Bildern, wie es Teenager eben so machen. "Ich möchte den Menschen nur zeigen, dass Menschen mit Behinderungen wie alle anderen sind", sagt die Athletin. "Paralympioniken sind Spitzensportler, die zufällig eine körperliche Behinderung haben."
Der Erfolg und die Berühmtheit zusammen mit den vielen Engagements, Kampagnen und Markenbotschafteraufträgen bringen auch Erwartungen und Druck mit, die für einen Teenager nicht immer einfach zu handhaben sind. Am meisten liebt Shepherd daher einfach ihren Sport. Wie alle Athletinnen und Athleten. "Wenn ich im Wasser bin, fühle ich mich völlig frei, ich kann mich ganz ich selbst sein."
Mit Zen und Selbstvertrauen
Wie die meisten Teenager bestimmt neben Schwimmen auch das soziale Umfeld und das Handy das Leben von Shepherd. Im Wasser verschwindet all dieser Lärm: "Ich bekomme mein Zen zurück", sagt sie. Schwimmen steht bei ihr aber für viel mehr. Für Empowerment. Für Selbstvertrauen. Für Selbstwertgefühl. "Ich fühle mich dadurch wirklich gestärkt", erklärt die heutige Weltklasse-Athletin. "Als ich aufgewachsen bin, konnte ich nicht wirklich alles alleine machen. Schwimmen war das Erste, das ich alleine machen konnte."
Nun inspiriert Do Thi Thuy Phuong alias Haven Faith Shepherd Tausende mit ihrer Überlebensgeschichte und ihrem Auftreten - und greift womöglich nach einer paralympischen Medaille.
Quelle: ntv.de