Gegner hat es "langsam satt" Selbst ein haderndes DHB-Team verbreitet Angst und Schrecken
17.01.2025, 15:07 Uhr
Marko Grgic erwartet gegen die Schweiz "keine Probleme".
(Foto: IMAGO/Kessler-Sportfotografie)
Für eine Top-Nation beginnt die Handball-Weltmeisterschaft mit einem Desaster, die deutsche Mannschaft darf trotz einer lange nicht berauschenden Vorstellung jubeln. Statt mit dem Messer am Hals geht das DHB-Team mit einem verdienten Luxus ins zweite Vorrundenspiel.
Nein, rauschhaft war der Start der deutschen Handball-Nationalmannschaft in die Weltmeisterschaft nicht. Bis weit in die zweite Hälfte hielten die international längst nicht mehr erstklassigen Polen die Partie offen, am Ende brachte das DHB-Team seine Qualität doch noch aufs Parkett: 35:28 hieß es am Ende, ein komplizierter Auftakt endete mit dem Optimum. "Auftaktspiele sind natürlich schwer, aber mit dem Wie müssen wir uns beschäftigen", sagte Torwart Andreas Wolff. Und Alfred Gislason fand: "40 Minuten lang haben wir uns sehr schwergetan. Vor allem die ersten Minuten, fand ich, haben wir überdreht", sagte der Bundestrainer in der ARD: "Wir konnten von Glück reden, dass wir zur Halbzeit geführt haben."
Beim nächsten Gegner sorgt die deutsche Mannschaft, die von sich selbst eine Medaille erwartet, trotz des glanzlosen Auftaktauftritts für Schrecken: "Langsam habe ich es satt, gegen Deutschland zu spielen", sagte Andy Schmid, Nationaltrainer der Schweiz vor dem dritten Pflichtspiel beider Nationen innerhalb von zwölf Monaten. "Die liegen uns einfach nicht mit ihrer Defensivstärke und ihrer Körperlichkeit. Ich hätte lieber einen anderen Gegner gehabt." Schließlich habe man "zuletzt zweimal ordentlich auf den Sack bekommen, und da gab es Experten, die uns vorher auf Augenhöhe gesehen haben wollten."
2024 hatte die deutsche Mannschaft den Nachbarn zweimal schwer geschlagen: 27:14 beim Weltrekordspiel zum EM-Auftakt im Fußballstadion von Düsseldorf, im vergangenen November gab es in der EM-Qualifikation ein 35:26 in Mannheim. Als Versprechen für eine erfolgreiche Zukunft verstehen sie im DHB-Team die früheren Ergebnisse freilich nicht: "Wir können uns nicht auf der Leistung aus der Vergangenheit ausruhen", mahnte Rückraumspieler Julian Köster. Und Weltklassetorwart Wolff, der im vergangenen Januar bei der EM sagenhafte 60 Prozent der Schweizer Würfe auf sein Tor gehalten hatte, erwartet "ein komplett anderes Spiel".
"Jetzt nicht mehr so viel hadern"
"Wir müssen an einigen Stellschrauben drehen, damit wir in den kommenden Spielen souveräner und intelligenter agieren", sagte Wolff am Tag vor dem Spiel. "Wenn du ein Spiel verlierst, kann es das schon mit dem Viertelfinale gewesen sein. Du brauchst die Punkte, und darfst dir keinen Ausrutscher erlauben." Und Linksaußen Lukas Mertens sekundierte: "Wir müssen jedes Spiel mit 100 Prozent angehen und dürfen keine Minute abschenken. So wie wir es bei Olympia gemacht haben."
Renars Uscins, der sich auf dem Weg zu olympischem Silber im vergangenen Sommer in Rekordgeschwindigkeit in die internationale Klasse schoss, wollte dagegen "jetzt nicht mehr zu viel mit uns hadern, sondern die Leichtigkeit der letzten 15 Minuten mitnehmen". Es war ja auch vor allem die Endphase gegen den erwartbar kompliziertesten Gegner in einer machbaren Gruppe, in der die deutsche Mannschaft aus der Verunsicherung hin zu einer brauchbaren WM-Form fand.
Dabei begann der Endspurt mit einem Schock: Spielmacher Juri Knorr war gegen Polen 20 Minuten vor dem Ende auf einer Werbefolie ausgerutscht und hatte sich das Knie überstreckt. 21:21 stand es da, die deutsche Mannschaft hatte in den Minuten zuvor eine komfortable Führung binnen weniger Minuten wieder weggeschmissen. Es war ein Kipppunkt der Partie. Während der ersten Behandlung zog er sich mit entsetztem Blick das Trikot übers Gesicht, wenig später entfuhr ihm ein "Fuck!". Deutschlands wichtigster Handballspieler kehrte nicht mehr aufs Feld zurück. Nach bangen Stunden folgte am Tag nach dem Spiel die Entwarnung: Keine strukturelle Verletzung, der Ausnahmekönner, der seine Qualitäten immer effektiver einzusetzen imstande ist, wäre gegen die Schweiz einsatzbereit.
"... dann werden wir keine Probleme haben"
Gut möglich ist aber, dass der Bundestrainer im vollen Vertrauen auf seine Mannschaft gegen die Schweiz auf seinen Spielmacher weitestgehend verzichtet. Der Bundestrainer darf sich über den gewaltigen Luxus freuen, dass sein Ensemble als Ganzes funktioniert - und längst nicht mehr vor allem von Juri Knorrs Form abhängig ist. Denn die letzten Minuten des Spiels gegen die Polen bestätigten die Erkenntnis, dass das deutsche Ensemble ohne Knorr, der gegen Polen eine gute Leistung gezeigt hatte, längst nicht mehr unter ständiger Kollaps-Gefahr agiert. Jedenfalls nicht in dieser Phase des Turniers gegen diese Gegner.
Ohne Knorr zog das DHB-Team schließlich entscheidend Tor um Tor weg, die Vertreter Luca Witzke und Nils Lichtlein fanden schnell das passende Tempo fürs deutsche Angriffsspiel und auch Uscins traf nach einem unkonzentrierten Start wieder zuverlässig: Nach drei Fehlwürfen bei den ersten vier Versuchen, erzielte der Linkshänder fünf seiner zehn Treffer in der Schlussviertelstunde. Das lange enge, letztlich aber deutlich gewonnene Auftaktspiel bestätigte die These des Bundestrainers: "Die Mannschaft hat sich weiterentwickelt. Die Spieler geraten nicht in Panik und machen sich keinen Stress, wenn es mal eine schlechte Phase gibt", hatte Gislason noch vor Turnierstart gesagt.
Für den Gegner macht die Konstellation die Arbeit mit der Ungewissheit vielleicht sogar noch komplizierter. "Manchmal fühlt man sich, wenn man gegen so gute Gegner spielt, wie früher vor einer Prüfung, wo man zehn Themen hat und nicht genügend Zeit, um alle zehn Themen zu lernen", sagte Schmid mit Blick auf die deutsche Mannschaft. "Dann lernt man nur sieben und hofft, die anderen drei kommen nicht dran."
Gegen die Schweiz winkt dem DHB-Team der vorzeitige Einzug in die Hauptrunde - und im Normalfall die gute Gelegenheit, Knorr noch einmal für größere Herausforderungen zu schonen. Gemeinsam mit den Tschechen produzierten die Schweizer ein Ergebnis, das es im Handball eigentlich seit dem vorherigen Jahrtausend nicht mehr gibt: 17:17 spielte das Ensemble von Trainer Schmid in ihrem Auftaktspiel, für den einstigen Weltklasse-Regisseur muss es ein wahrer Krampf gewesen sein, dem Fehlwurf-Festival zu folgen. Nicht mal jeder zweite Angriff endete mit einem Treffer. "Wenn wir unser Ding durchziehen, werden wir keine Probleme haben. Wir wissen, wie wir die Schweiz schlagen können. Und ich denke, das werden wir auch machen", sagte Rückraumspieler Marko Grgic. Mit dem Ausfall von Bundesliga-Torschützenkönig Manuel Zehnder, der sich wenige Tage vor WM-Start eine schwere Knieverletzung zugezogen hatte, kassierten die Eidgenossen einen herben Nackenschlag.
Knappe Niederlage wäre okay
Der Fokus scheint im deutschen Lager aber geschärft: Köster verwies auf den Magdeburger Schlussmann Nikola Portner, "der das Tor richtig zuschließen kann" und dies gegen Tschechien unter Beweis stellte. Lukas Mertens richtete den Fokus auf "Schlüsselspieler" Lenny Rubin, den 2,05-Meter-Mann des TVB Stuttgart. "Ihn müssen wir außerhalb von neun Metern in den Griff bekommen. Da darf er uns nicht zu viele Tore einschenken", sagte der Linksaußen. Rubin, der gegen die Tschechen beinahe die Hälfte aller Schweizer Tore geworfen hatte, rechnet sich und der Schweiz durchaus Chancen aus. "Deutschland ist ganz klar Favorit, aber es ist ein neues Spiel. Wir haben sicherlich auch gelernt aus dem letzten Jahr", sagte der Rückraumspieler. "Wir probieren, ein paar einfache Tore mehr zu machen und unser Angriffsspiel allgemein zu verbessern. Und dann probieren wir, Deutschland zu schlagen."
Nein, "wir werden uns nicht auf den Rücken legen und die weiße Fahne hissen, definitiv nicht", versichert Schmid. Sein Team wolle "Mentalität und unser Herz zeigen, wir werden es in beide Hände nehmen und mit Risiko alles reinlegen, damit wir nahe dran kommen, Deutschland ein Bein zu stellen." Aber: Die Hoffnung auf eine Sensation sei für ihn "weit weg. Ich bin okay damit, wenn wir knapp verlieren und dafür gegen Polen gewinnen und in die Hauptrunde einziehen."
Quelle: ntv.de