Sport

Todesfall, Cannabis, Triumph Die traurige Geschichte der 100-Meter-Weltmeisterin

Richardson nach ihrem Sieg im WM-Finale über 100 Meter.

Richardson nach ihrem Sieg im WM-Finale über 100 Meter.

(Foto: Imago/Beautiful Sports/Torben Flatemersch)

Schon vor vier Jahren stürmt Sha'Carri Richardson in die Weltspitze über 100 Meter. Bei der WM in Budapest gewinnt sie ihren ersten großen Titel. Dazwischen liegt für die 23-jährige US-Amerikanerin eine herausfordernde Zeit - in die sie immer wieder Einblick gewährt.

Shelly-Ann Fraser-Pryce versucht alles, um sich zum dritten Mal in Serie und zum insgesamt sechsten Mal zur schnellsten Frau der Welt zu küren. Doch die 1,52 Meter große Jamaikanerin, Spitzname "Mommy Rocket", streckt sich im 100-Meter-Finale von Budapest vergeblich. Auf der Außenbahn stürmt Sha'Carri Richardson an allen Konkurrentinnen vorbei und nach 10,65 Sekunden ins Ziel. Die schnellste jemals bei einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft gelaufene Zeit und, viel bedeutender: der erste große Titel für die US-Amerikanerin.

"All die Superstars haben ihr Bestes gegeben, das hat mir geholfen, auch das Maximum herauszuholen", sagt Richardson anschließend: "Ich stehe hier neben lebenden Legenden. Das fühlt sich großartig an." Silber und Bronze gehen nach Jamaika, an Shericka Jackson (10,72) und Titelverteidigerin Fraser-Pryce (10,77), die 2009 in Berlin erstmals triumphiert hat. Nach einer von Verletzungsproblemen geprägten Saison freut sich die 36-Jährige über den dritten Platz, bezeichnet den Gewinn der Medaille als "wahre Freude".

Richardson wiederum hält sich kurz in ihrer ersten Reaktion auf den Sieg, hinter dem sich eine außergewöhnliche Geschichte verbirgt: "Ich bin hier. Ich bin die Weltmeisterin. Ich habe es euch allen gesagt. Ich bin nicht zurück, ich bin besser." Mit den letzten beiden Sätzen umgibt sich die 23-Jährige laut dem US-Sender ESPN bereits die komplette Saison - und auch wenn Richardson nicht von einem Comeback sprechen möchte, so gehört zur neuen 100-Meter-Königin doch die Geschichte eines rasanten Aufstiegs, eines tiefen Falls und einer Rückkehr in die Weltspitze.

"Ich suche keine Ausreden und kein Mitleid"

2019 hatte sie bei den US-College-Meisterschaften erstmals für internationale Schlagzeilen gesorgt: als 19-Jährige, die in 10,75 Sekunden auf Platz neun der ewigen Weltbestenliste gesprintet war. Unmittelbar danach beendet Richardson ihre Zeit an der Louisiana State University, um Profi zu werden. Die Saison 2020 fällt aufgrund der Corona-Pandemie weitgehend flach, 2021 gewinnt Richardson die Trials, die US-Ausscheidungen im Vorfeld der Olympischen Spiele - und wird dann aus dem Team für Tokio ausgeschlossen. Bei einer Dopingprobe während der Ausscheidungswettkämpfe ist ihr Marihuana-Konsum nachgewiesen worden.

Rat und Nothilfe bei Suizid-Gefahr und Depressionen
  • Bei Suizidgefahr: Notruf 112
  • Deutschlandweites Info-Telefon Depression, kostenfrei: 0800 33 44 5 33

  • Beratung in Krisensituationen: Telefonseelsorge (0800/111-0-111 oder 0800/111-0-222, Anruf kostenfrei) oder Kinder- und Jugendtelefon (Tel.: 0800/111-0-333 oder 116-111)
  • Bei der Deutschen Depressionshilfe sind regionale Krisendienste und Kliniken zu finden, zudem Tipps für Betroffene und Angehörige.
  • In der Deutschen Depressionsliga engagieren sich Betroffene und Angehörige. Dort gibt es auch eine E-Mail-Beratung für Depressive.
  • Eine Übersicht über Selbsthilfegruppen zur Depression bieten die örtlichen Kontaktstellen (KISS).

Die Sprinterin bekennt anschließend, die Droge konsumiert zu haben, um mit dem unerwarteten Tod ihrer biologischen Mutter klarzukommen. Ein Journalist hatte sie kurz vor den Trials darüber informiert: "Diese Nachricht von einem fremden Menschen zu erhalten", so Richardson, "hat mich tief geschockt". Der folgenschwere Regelbruch sei ihr bewusst gewesen, erklärt sie damals: "Ich weiß, was ich darf und was nicht und ich habe trotzdem diese Entscheidung getroffen. Ich suche keine Ausreden und auch kein Mitleid." Ohnehin geht Richardson offen mit mentalen Herausforderungen um.

Kurz vor der WM in Budapest berichtet sie in einem Interview sogar von einem Suizidversuch in ihrer High-School-Zeit. Und erklärt das so: "Das Fehlen der Bindung zu meiner leiblichen Mutter während der Phase, in der ich älter wurde", sagt die 23-Jährige in einem Video, das sich über die sozialen Medien verbreitete. "Ich glaube, das hat mich wirklich getroffen", gibt sie darin Einblick in die Gefühle, die das Verstoßen-werden in ihr auslösten - und die sie "an einen sehr dunklen Ort gebracht" haben. Ihre Tante sei es dann gewesen, die ihr half, sich aus diesem Loch herauszuarbeiten.

Von Bahn 9 zum Sieg

2022 glänzt sie erneut mit schnellen Zeiten, patzt jedoch bei den US-Meisterschaften und verpasst die Finalläufe über 100 und 200 Meter. Die WM in Eugene/Oregon findet ohne Richardson statt, die auch rein optisch mit ausgefallenen Frisuren und Haarfarben sowie farbenprächtigen langen Fingernägeln die Blicke auf sich zieht. In Budapest gelingt es ihr endlich, alles im entscheidenden Moment zusammenzubringen.

Mehr zum Thema

Im Halbfinale verpasst sie als Dritte noch die direkte Qualifikation für den Endlauf, kommt nur über die Zeitregel eine Runde weiter. Deshalb muss sie das Finale auch von der Außenbahn 9 bestreiten, während die vermeintlichen Favoritinnen auf den mittleren Bahnen stehen. Vielleicht ist es genau diese Abgeschiedenheit auf der Außenbahn, die Richardson beflügelt. Von dort ist für die US-Amerikanerin nämlich kaum zu sehen, was weiter innen passiert. Sie kann ihr eigenes Rennen laufen. Sich voll auf die eigene Leistung konzentrieren.

Und so ist es dann Richardson, die unmittelbar hinter der Ziellinie die Arme ausbreitet. Ungläubig blickt sie auf die Anzeigetafel, auf der kurz darauf neben ihrem Namen die 1 auftaucht. Weltmeisterin. Schnappatmung. Dann die Show. Denn die beherrscht sie perfekt. So wie ihr Pendant Noah Lyles, der Champion bei den Männern. Auch er ist ein Typ mit trauriger Geschichte. Beide taugen, um die Sehnsucht der Leichtathletik nach neuen Superstars zu stillen. Richardson hat beeindruckend geliefert. Mit der schnellsten Zeit der WM-Geschichte, als Neuling gegen Konkurrentinnen, die laut "Associated Press" insgesamt schon 38 Medaillen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften errungen hatten. Der (vorläufige) Höhepunkt einer außergewöhnlichen Geschichte.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen