
Besser kann eine Enttäuschung nicht ausgemerzt werden: Nach dem EM-Lauf über 10.000 Meter ist Konstanze Klosterhalfen unglücklich-hadernd, nun strahlt sie, weiß gar nicht, wohin mit ihrer Euphorie. Sie ist Europameisterin über 5000 Meter - dabei hätte ihr Trainer ihr den Start am liebsten verboten.
"Ich hätte, glaube ich, immer weiterlaufen können." Konstanze Klosterhalfen kennt kein Halten. Gerade ist sie als Erste über 5000 Meter bei der Leichtathletik-Europameisterschaft ins Ziel gestürmt, schon geht ihr Lauf weiter. Mit der Fahne in den Händen rennt sie jubelnd ihre Ehrenrunde. Sie ist so schnell, so energiegeladen, als hätte sie nicht eben erst 12,5 Runden auf der Bahn im Münchner Olympiastadion absolviert. Sie ist mit diversen Jubeleinlagen mit dem frenetisch applaudierendem Publikum schon wieder zurück vor der Haupttribüne, da stehen einige ihrer Konkurrentinnen erst völlig entkräftet von der Tartanbahn wieder auf.
Die 25-Jährige aber ist so voller Adrenalin, so voller Euphorie, dass sie gar eine zweite Ehrenrunde drehen will, aber von einem Ordner im Stadion davon abgehalten wird. Sie darf nicht in den Bereich hineinlaufen, in dem die Hochspringer noch um Medaillen wetteifern, muss nach einer Runde abbiegen, erst zu den TV-Stationen, dann in die Mixed Zone und in aller Hektik auch schon weiter zur Siegerehrung auf der Bühne am Olympiasee. Es ist als würde ihr Dauerlauf im Eiltempo immer weitergehen. Was sie von diesem Abend hält? "Wahnsinn", dieses Wort fällt immer wieder, während sie übers ganze Gesicht strahlt. "Ich kann nicht fassen, wie es jetzt gekommen ist."
"War müde gelaufen"
Der Wettkampf über 10.000 Meter vom Montag, er spukten ihr noch einige Tage im Kopf herum. Dieser war überhaupt nicht so gelaufen, wie sich die deutsche Top-Läuferin das vorgestellt hatte. Zwar war sie nur dreieinhalb Sekunden über ihrem eigenen deutschen Rekord geblieben, hatte mit Platz vier aber die Medaille verpasst - und auch ihre eigene Wunschzielzeit von etwa 30:30 Minuten, die eine mehr als 30-sekündige Verbesserung ihres Rekordes bedeutet hätte. "Bei den Zehn hab ich mich ehrlich gesagt nicht gefühlt", sagt sie zurückblickend auf Dienstag. "Der Zehner war müde gelaufen und ich habe keine Sekunde über so ein Rennen nachgedacht, das ist unbeschreiblich, so ein Rennen zu haben, das ist so schön."
Dabei hat sie sich noch an diesem Freitagmorgen gar nicht so viel besser gefühlt, wie sie bekennt. Ihre Verfassung in den vergangenen Tagen ist sogar so mau, dass ihr Trainer Pete Julian sie am liebsten gar nicht laufen lassen würde. Er stellt ihren Start über 5000 Meter infrage, doch Klosterhalfen setzt sich durch. "Ich habe ihn angerufen und habe gesagt, ich würde schon wirklich gern laufen und dann hatte ich heute Morgen schon Bammel. Ich habe mich nochmal in den Lymphomaten (Therapiegerät zur Durchblutungsförderung, Anm.d.Red.) gelegt und dachte 'Hmm, ich hoffe, ich laufe nicht hinterher.' Aber ich dachte 'egal, das Publikum wird mich auch so anfeuern.'"
Und wie es sie anfeuert - und wie sie rennt. "Ich habe im Rennen so ein bisschen an den Rennverlauf von Doha gedacht", sagt sie rückblickend auf die Weltmeisterschaft 2019 als sie Bronze gewinnen konnte. Es ist ein gutes Zeichen, denn anschließend hatte sie schwere Jahre mit Hüftverletzungen auf beiden Seiten und einer Oberschenkelverletzung, zuletzt setzte ihr auch noch Corona schwer zu. Die Weltmeisterschaft in Eugene vor vier Wochen verlief deswegen für sie enttäuschend. Auf den Doppelstart, den sie in München wagt, verzichtete Klosterhalfen aufgrund des Trainingsrückstandsüber 5000 Meter verpasste sie dann das Finale um fast 17 Sekunden. Erst beim darauffolgenden Meeting im polnischen Chorzow zeigt sie sich wieder in Form. "In Polen war dann das erste Rennen, das ich wieder nach einem Rennen angefühlt hat. Und das hat sich heute auch nach Rennen angefühlt", erklärt sie überglücklich.
"Das ist unbeschreiblich"
Es ist ein Rennen, das ihr Coach aus nächster Nähe beobachtet. Noch nie war der US-Amerikaner, bei dem sie seit 2018 in Eugene trainiert, mit seiner Athletin bei einem Wettkampf in Deutschland. Als sie sich durchgesetzt hatte und noch einmal bei der EM an den Start gehen durfte, buchte er kurzerhand ein Ticket. Um 16.40 Uhr ist er in München gelandet, fünf Stunden später steht Klosterhalfen an der Startlinie.
Die ganze Zeit mischt sie vorne mit, bis das Rennen ein Déjà-vu hervorruft. Wieder ist es die Türkin Yasemin Can, die vorn wegzieht, so wie schon bei ihrem Lauf zu Gold über 10.000 Meter. "Die Taktik war eigentlich geduldig zu bleiben. Das hat erst ganz gut geklappt, später dann schon nicht mehr so. Als die Türkin gegangen ist, sollte ich eigentlich nicht als Erste hinterhergehen, denn das hat über die zehn Kilometer nicht so gut geklappt. Aber dann habe ich gemerkt, sie zieht ihren Schritt nicht so schnell wie zuvor. Es war das Ziel, nicht zu schnell aufzuschließen, sondern Schritt für Schritt." Klosterhalfen beschleunigt ihr Tempo ebenfalls, sie nähert sich Meter für Meter der Türkin, bis sie knapp zwei Runden vor Schluss sogar an ihr vorbeizieht. Das Stadion tobt, sie setzt sich ab und läuft nach 14:50,47 Minuten als erste über die Ziellinie. Can kommt sechseinhalb Sekunden nach ihr ein, als Dritte folgt die Britin Eilish McColgan, die über 10.000 Meter bereits Silber gewonnen hatte.
Klosterhalfen springt, sie tanzt mit der Fahne über den Schultern über die Tartanbahn, sie will immer weiter. "Ein Europameistertitel ist etwas ganz Besonderes und vor Heimpublikum, das ist unbeschreiblich", sagt sie strahlend. Es ist ein Abend, der ihr ganz viel zurückgibt, wie sie bekennt. Als WM-Dritte von 2019 ist sie fast schon ganz oben angekommen, ehe die Verletzungen sie zurückwerfen und die Corona-Pandemie die Sportler stillstehen lässt, sie sich selbst infiziert und pausieren muss. "Wenn man ganz oben ist und dann auch durch so eine Zeit durch muss, das gehört dazu, das habe ich mir immer wieder gesagt", erklärt sie. "Ich bin so dankbar für die Menschen, die mit mir da durchgegangen sind. Jetzt wieder auf so einem Hoch zu sein, das ist wunderschön und dafür lohnt sich jeder Moment."
Die Euphorie, sie hat Klosterhalfen voll im Griff. Nicht ausgeschlossen, dass sie jemand aufhalten muss, sonst würde sie womöglich noch die ganze Nacht weiterlaufen wollen.
Quelle: ntv.de