DHB-Team ist nur "fast da" Was jetzt brutal wehtut, soll bald so wertvoll sein
26.01.2023, 07:19 Uhr
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft verlor gegen Frankreich und lernte viel.
(Foto: Jan Woitas/dpa)
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft spielt gegen Rekord-Weltmeister Frankreich erst groß auf und bricht dann fatal ein. Das größte Spiel der letzten Jahre endet mit einer Pleite, soll aber irgendwann noch einmal wichtig werden.
Der Superstar war ratlos: Nein, sagte Nikola Karabatic, dreifacher Welthandballer und vierfacher Weltmeister, er könne nicht so genau sagen, was der deutschen Handball-Nationalmannschaft noch fehlen würde, um wieder die großen Spiele gegen die großen Gegner zu gewinnen. Mit 35:28 hatten seine Franzosen das DHB-Team zuvor im Viertelfinale der Weltmeisterschaft geschlagen. Viel zu hoch, weil die deutsche Mannschaft 35 Minuten phasenweise grandios aufgetrumpft hatte. "Das Ergebnis zeigt nicht, wie stark die deutsche Mannschaft wirklich war", sagte auch Karabatic. Verdient war die Niederlage, weil am Ende eben die Luft ausging, die Effizienz sich verabschiedete und zu viele Fehler ihren Weg ins deutsche Spiel fanden. Dinge, die auf diesem Niveau nicht passieren dürfen, weil sie sofort bestraft werden.
Es war der große Realitätscheck, die finale Standortbestimmung nach fünf Spielen, in denen eine neue DHB-Generation ihre Aufgaben teils begeisternd gelöst hat und einem, das gegen eine Weltklassemannschaft nach starker Leistung einen Dämpfer erhalten hatte. Nun wissen Deutschlands Handballer, wo sie wirklich stehen: an der Schwelle zur absoluten Weltspitze. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Mannschaft von Trainer Alfred Gislason ist in diesem Turnier einen langen Weg gegangen, aber kurz vor dem Ziel ging die Luft aus. Diesmal.
"Das tut erstmal brutal weh"
"Wir müssen es hinkriegen, in der Crunchtime den einen Fehler weniger zu machen", sagte ein schwer enttäuschter Rune Dahmke hinterher. Zu Beginn waren sie voll da, beim 11:7 führte das DHB-Team erstmals mit vier Toren, kurz nach der Halbzeit wären sie fast wieder auf drei Tore weggezogen. Fast. "Immer nur fast da zu sein, reicht nicht", sagte Rune Dahmke, Europameister von 2016. "Wenn du mit Minus sieben aus dem Spiel rausgehst, musst du unzufrieden sein. Auch wenn das nicht widerspiegelt, was wir können und was wir über große Teile des Spiels geleistet haben. Das tut jetzt erstmal brutal weh."
Es wird also wieder nichts mit der ersten deutschen WM-Medaille seit dem Triumph von 2007. Und wieder hat es nicht gereicht, eine große Mannschaft zu schlagen. Auf einen Sieg in einem K.-o.-Spiel bei einer WM wartet die deutsche Mannschaft seit 2015. "Unheimlich stolz" ist Alfred Gislason dennoch auf seine Mannschaft. Mit begeisterndem Offensivhandball hatte sie die leichteren Aufgaben bis zur feststehenden Qualifikation fürs Minimalziel Viertelfinale nicht einfach nur bestanden, sondern sogar "hervorragend gelöst", wie es der langjährige DHB-Vize Bob Hanning anerkennend beschrieb.
In den Tagen von Katowice und dem kurzen Ausflug nach Gdansk ist sichtbar etwas in Bewegung gekommen. Mit Juri Knorr gibt es einen Spielmacher, der auch gegen Frankreich lange überzeugte, ehe auch er Fehler machte. "Fehler, die er machen darf", sagte Gislason milde über seinen besten Schüler. "Viele Dinge, die sehr gut waren", habe er gesehen. Die Einschaltquoten der sieben deutschen Spiele liegen über den Ergebnissen der vorherigen Turniere, die Mannschaft begeistert wieder.
Nun geht es nach Stockholm zur Platzierungsrunde, Platz 5 ist noch drin. Ein lohnendes Ziel, "so ein fünfter Platz bei einer Weltmeisterschaft in der Biografie ist für jeden von uns ein schöner Erfolg", blickte Kapitän Johannes Golla tapfer voraus. Wertvoller als ein fünfter Platz ist aber die Erfahrung, die die Mannschaft, die seit beinahe drei Jahren bei großen Turnieren permanent im Krisenmodus operiert, sammeln konnte. Geschüttelt durch die Pandemie und ständige Absagen etablierter Nationalspieler war ein kontinuierlicher Aufbau lange, lange unmöglich.
"Das letzte Turnier", sagte Andreas Wolff mit Blick auf ein wildes Corona-Durcheinander bei der EM 2022, "das zählt für mich nicht." Diesmal könnten sie endlich wenigstens etwas mit nach Hause nehmen, unabhängig von der Endplatzierung, sagte der Bundestrainer: "Wir sind in der Breite und auf den Schlüsselpositionen immer noch eine unerfahrene Mannschaft." Und: "Es ist wichtig, diese Erlebnisse zu haben. Wir haben bei diesem Turnier unheimlich viel dazu gelernt."
"Es ist die Cleverness"
Auch Wolff, der endlich wieder ein durchgängig starkes Turnier spielt und selbst durch eine neu gewonnene Positivität eine ganz individuelle, für die Mannschaft bereichernde Entwicklung nimmt, wollte sich nach dem Spiel nicht zu lange mit den dunklen Seiten der Niederlage befassen: "Alle haben das Potenzial, sich zu großartigen Spielern zu entwickeln", sagte der 31-Jährige. "Es fehlt aber noch die Erfahrung auf absolutem Topniveau. Das hat heute den Ausschlag gegeben. Wenn wir noch ein bisschen zusammenwachsen und noch ein bisschen mehr Erfahrung gegen Gegner auf solchem Niveau sammeln", so Wolff, "wird uns das Glück bald auch 60 Minuten hold sein."
Was der Faktor Erfahrung auf dem Niveau, zu dem die deutsche Mannschaft wieder zurückkehren möchte, konkret bedeutet? "Es ist die Cleverness. Du hast bei Frankreich sofort gemerkt: Zwei Tore vorne, da nehmen sie das Tempo raus. Jeden Angriff ein, zwei Minuten ausspielen. Sie bestrafen jeden Fehler gnadenlos, wissen aber auch, wann sie aufhören müssen", erklärte Rune Dahmke. "Bei uns ist vieles richtig gut, aber manchmal ist auch viel Risiko. Man hat das Gefühl: Wenn der Wurm drin ist und ein, zwei Anspiele nicht klappen, dass dann noch mehr kommt und wir es nicht rechtzeitig abstellen können. Das ist der Unterschied."
Es ist ein Lernprozess und zumindest in diesem Viertelfinale durften sie von den Besten lernen. "Remili fängt einen Pass über einen halben Meter ab", staunte Kapitän Johannes Golla anerkennend, "das machst du nur, wenn du schon einige Male auf diesem Niveau in diesen Drucksituationen warst. Und das haben sie uns natürlich noch voraus. Heute haben wir vorgeführt bekommen, was es bedeutet, abgezockt zu sein."
Und dann ist da eben noch die Qualität, vor allem in der Breite. Frankreichs Trainer Guillaume Gille ist mit seinem Kader in der bemerkenswerten Situation, permanent und auf nahezu allen Positionen Weltklasse durch Weltklasse ersetzen zu können. "Viele Spieler, die bei Frankreich auf der Bank oder auf der Tribüne sitzen", schwärmte Bundestrainer Gislason, "hätten bei anderen Mannschaften sicher einen Stammplatz". Die deutsche Mannschaft musste der Belastung Tribut zollen, dass zu viele Schlüsselspieler zu viel spielen mussten, auch wenn Gislason aufgrund der starken Vorleistungen in den Spielen zuvor oft Ressourcen schonen konnte.
Noch mehr Qualität
Mit Fabian Wiede, der die WM wegen einer Operation und seiner Heirat abgesagt und bei Gislason und auch in Teilen der Mannschaft damit unüberhörbar für Missmut gesorgt hatte, steht dem Bundestrainer auf dem Weg zur Europameisterschaft 2024 wohl ein weiterer Spieler mit ungeheurer spielerischer Qualität zur Verfügung. Auch der im Nationalteam pausierende Hendrik Pekeler, einer der besten Abwehrspieler des Landes mit immenser internationaler Erfahrung, soll mit einer Rückkehr ins DHB-Team liebäugeln. Es wären für Gislason hochkarätige Optionen, diesem Kader, der sich über mehrere Maßnahmen und Stresssituationen formte, auf hohem Niveau breiter aufzustellen.
Das Fazit dieser Weltmeisterschaft ist gezogen, die Lektionen erkannt. Wichtige Fortschritte gemacht. Auch, wenn es nichts gibt, das einen Platz in den Geschichtsbüchern einbringt, wie es Sportvorstand Axel Kromer formulierte. Zwei Spiele aber wird es bei dieser WM noch geben, "Tests auf Wettkampfniveau, die uns auch weiterbringen", sagte Golla, dem es wichtig ist, "das Turnier ordentlich zu Ende zu bringen." Schon Afrikameister Ägypten ist dabei am kommenden Freitag (15.30 Uhr/ARD und im Liveticker auf ntv.de) ein echter Härtetest, ein vergleichsweise knappes 22:26 gegen WM-Favorit Schweden im Viertelfinale vor dessen großer Heimkulisse ist eine überzeugende Visitenkarte. Gewinnt Deutschland, kommt es danach in der Partie um Platz fünf wohl zu einer Revanche gegen Norwegen.
Im Januar 2024 steigt die Europameisterschaft im eigenen Land, bis dahin soll die Enttäuschung aus dem Ausscheiden zu Erfahrung für kommende Aufgaben geworden sein. Um dann aus einem "fast da" endlich wieder ein "voll da" zu machen.
Quelle: ntv.de