WM-Handball unter Chaosbedingungen Wie viel "Bad" steckt in den "Boys"?
04.01.2017, 12:11 Uhr
Silvio Heinevetter läuft heiß.
(Foto: imago/Eibner)
Was für eine Entwicklung der deutschen Nationalmannschaft: Dank Trainer Dagur Sigurdsson spielen die "Bad Boys" plötzlich Speed-Handball, der die Gegner das Fürchten lehrt. Also alles fit für die Mission WM-Titel in Frankreich? Geht so.
EM-Titel, Olympia-Bronze und Handball, der wieder die Massen begeistert: Das vergangene Jahr hätte für die deutsche Nationalmannschaft eigentlich nicht besser laufen können. Doch so sensationell 2016 für die "Bad Boys" begann - in den vergangenen Monaten konnte sich durchaus der Eindruck aufdrängen, als regiere beim Deutschen Handball-Bund mitunter das blanke Chaos. Bis zur Weltmeisterschaft in Frankreich vom 11. bis zum 29. Januar bleiben nur noch wenige Tage, um diesen Eindruck zu revidieren.
Zwar wird Bundestrainer Dagur Sigurdsson seine Mannschaft noch einmal durch das Turnier führen, doch fest steht: Der Europameister-Macher kehrt dem DHB anschließend den Rücken und trainiert die japanische Auswahl. Nicht nur Handball-Ikone Stefan Kretzschmar bedauert, dass "wir den bestmöglichen Bundestrainer verlieren". Immerhin gelang dem Isländer das Kunststück, den einfallslosen Heuberger-Handball der Jahre zuvor vergessen zu machen.
Mit Markus Baur und Christian Prokop stehen nun zwei hochkarätige Kandidaten für das Bundestraineramt in den Startlöchern. Doch hat der DHB genug getan, um Sigurdsson zu halten? Der 43-Jährige hatte deutlich gemacht, dass er mit seiner Familie wieder auf Island leben will und seine berufliche Zukunft an diese Bedingung geknüpft. Der japanische Verband macht's möglich. Bleibt die Frage, ob ein solches Arrangement nicht auch für den DHB in Frage gekommen wäre.
Absagen und Ausfälle
Tor: Silvio Heinevetter (Füchse Berlin), Andreas Wolff (THW Kiel);
Linksaußen: Uwe Gensheimer (Paris Saint-Germain), Rune Dahmke (THW Kiel)
Rückraum Links: Paul Drux, Steffen Fäth (beide Berlin), Finn Lemke (SC Magdeburg), Julius Kühn (VfL Gummersbach)
Rückraum Mitte: Niclas Pieczkowski (SC DHfK Leipzig),
Rückraum Rechts: Kai Häfner (TSV Hannover-Burgdorf), Holger Glandorf (SG Flensburg-Handewitt)
Rechtsaußen: Patrick Groetzki (Rhein-Neckar Löwen), Tobias Reichmann (KS Vive Tauron Kielce)
Kreis: Patrick Wiencek (Kiel), Jannik Kohlbacher (Wetzlar)
Doch während die Trainerfrage zumindest für die WM in Frankreich geklärt ist, stehen hinter dem Spielerkader große Fragezeichen. Neben den verletzungsbedingten Ausfällen von Steffen Weinhold und Fabian Wiede erklärten mit den Europameistern Christian Dissinger, Martin Strobel und Hendrik Pekeler gleich drei Leistungsträger ihren freiwilligen Verzicht. Den Spielern wurde der übervolle Terminkalender schlichtweg zu viel. Neben dem Alltag in der Bundesliga machen der DHB-Pokal sowie die uinternationalen Wettbewerbe mit den Vereinen das Mammutprogramm der Nationalspieler perfekt. Der Kalender im europäischen Spitzenhandball hat die Grenze des Machbaren längst überschritten.
Das Pensum nahm in der laufenden Saison derart absurde Züge an, dass die SG Flensburg-Handewitt gleich zweimal an einem Tag antreten sollte. Anfang Oktober war für 16.50 Uhr der Anpfiff der Champions-League-Partie gegen Bjerringbro-Silkeborg angedacht, nur 25 Minuten später sollte das Bundesliga-Heimspiel gegen Leipzig beginnen. Erst eine aufwendige Terminrotation konnte das Chaos beheben. Die Dauerpräsenz im europäischen Handball erscheint aus sportmarketing-technischer Sicht vielleicht reizvoll und ist für Sponsoren attraktiv, bringt Spieler aber nicht selten an die Grenzen der Belastbarkeit. "Handballer haben eine unglaubliche Willenskraft, aber es gibt Grenzfälle, die beweisen: Es ist zu viel", begründete Dissinger seine Nationalmannschafts-Pause. Der Profi vom THW Kiel steht mit drei Verletzungen in diesem Jahr stellvertretend für eine Reihe von Spielern, die die Dauerbelastung nicht selten mit ihrer Gesundheit bezahlen.
"Oft waren wir schlechter besetzt"
Positiv dürfte sich für Sigurdsson dagegen die Rückkehr von wichtigen Leistungsträgern, allen voran Kapitän Uwe Gensheimer auswirken. Stand beim Olympischen Turnier noch ein Fragezeichen dahinter, ob es gelingt, die Rückkehrer in das zusammengewürfelte Überraschungs-Europameisterteam zu integrieren, dürfte das nach Olympia-Bronze abgehakt sein. "Oft waren wir schlechter besetzt. Deswegen mache ich mir keine großen Sorgen. Die Ausfälle sind kein Neuland für uns, das ist Realität", betonte Sigurdsson vor dem Auftakt der WM-Vorbereitung.
Viel wichtiger als der Spielerkader ist ohnehin etwas anderes. Die "Bad Boys" demonstrierten in der Vergangenheit wie kaum eine andere Mannschaft, dass Teamgeist das Fehlen von Ausnahmespielern kompensieren kann. Ob in Frankreich ein Nikola Karabatic oder bei den Dänen Superstar Mikkel Hansen: Erwischen die einen schlechten Tag, funktioniert oftmals das gesamte Team nicht. Sigurdsson setzt in seiner Handball-Philosophie stattdessen auf Spieler, die sich zur Not auch mal fürs Kollektiv zurücknehmen – Alleingänge passen dem Isländer nicht ins Konzept. Kann also gut sein, dass die deutsche Handball-Nationalmannschaft in den "Komme-was-wolle"-Modus schaltet und den Gegnern zeigt, wieviel "bad" noch in Sigurdssons WM-"Boys" steckt. Immerhin geht die DHB-Auswahl als Titelfavorit ins Rennen.
Am Ende wird die Physis der 24 Mannschaften eine nicht unwichtige Rolle spielen. Dass die hohe Belastung nicht nur die deutschen Profis betrifft, ist selbsterklärend - zumal nicht wenige internationale Stars ihr Geld bei deutschen Vereinen verdienen. Klar dürfte auch sein, dass die Absage von Einzelspielern kompensiert werden kann und muss - ebenso wie die Tatsache, dass Verletzungen im Sport nun mal passieren. Fraglich ist aber, ob es im Sinne des Handballsports und der Aktiven ist, wenn wie so oft nicht die Mannschaft mit den besten Akteuren den Titel holt - sondern die mit den wenigsten Ausfällen.
>> Eine ordentliche Frühform präsentierten die deutschen Handballer am Dienstagabend beim 30:21 (17:9) gegen Rumänien. Die Generalprobe erfolgt am Montag gegen Österreich, bevor am 13. Januar das WM-Eröffnungsspiel gegen Ungarn ansteht.
Quelle: ntv.de