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"Möglichst perfektes Match" Zverevs Rendezvous mit der Geschichte

Alexander Zverev, Grand-Slam-Titel-Anwärter.

Alexander Zverev, Grand-Slam-Titel-Anwärter.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Alexander Zverev ist Olympiasieger und längst einer der konstantesten Tennisspieler in der absoluten Weltklasse. Doch dem Deutschen fehlt noch einer der ganz großen Titel. Davon hat Novak Djokovic schon reichlich. Nun treffen sich beide kurz vor dem großen Finale einer großen Geschichte.

Alexander Zverev gegen Novak Djokovic, der Dominator der Tenniswelt gegen den Mann der Stunde. Der Serbe, der Tennisgeschichte schreiben kann und will und der Deutsche, der ihn daran hindern will. Oder eher muss, denn Zverev hat eigene große Ziele: Die US Open bekommen das größtmögliche Match, das in den Tagen von New York vorstellbar ist. Es ist eine dramatische Zuspitzung, der Höhepunkt. Dabei geht es "nur" um ein Halbfinale. Wer gewinnt, der hat noch nichts gewonnen. Wer verliert, verliert mehr als nur ein Tennismatch.

26 Matches in Folge hat Novak Djokovic in diesem Jahr in Folge bei den vier Grand-Slam-Turnieren gewonnen, eine unfassbare Zahl. Die Grand Slams sind die ultimative Herausforderung der Tenniswelt, dreimal zwei Wochen auf höchstem Niveau geht es da auf unterschiedlichen Belägen gegen die besten Kollegen der Welt. Gewinnt der Serbe noch zwei weitere Matches in New York, holt er den Grand Slam, also der Triumph bei allen vier der Größtveranstaltungen - und wäre der erste Profi seit Rod Laver, dem das gelänge. Mehr geht im Tennissport nicht. Der Australier Laver schaffte das 1969, seitdem kam kein Tennisprofi auch nur in die Nähe dieses Ausweises der totalen Dominanz. Kein Pete Sampras, kein Björn Borg, kein Rafael Nadal und kein Roger Federer.

Gewinnt Djokovic die US Open, ist er auch der Spieler mit den meisten Grand-Slam-Titeln. Mit seinem 21. Sieg bei einem Major würde er die ewigen Rivalen Federer und Nadal abhängen. "Ich will nicht darüber sprechen. Ich weiß, es ist da, aber ich will mich nur auf das nächste Spiel konzentrieren", wehrte Djokovic nach seinem Viertelfinalsieg gegen den Italiener Matteo Berretini weit nach Mitternacht Ortszeit die Frage in diese Richtung ab und gestand sogar: "Wenn ich zu sehr darüber nachdenke, belastet mich das mental."

"... noch schwerer, darin zu verweilen"

Der Serbe ist in New York angespannt, immer wieder legt er sich mit Zuschauern an, er brüllt nach gewonnenen Punkten, das Gesicht verzerrt. "Diese Geräusche, die Novak gemacht hat - das waren ja fast die Geräusche eines Werwolfes", staunte Tennis-Legende Boris Becker schon im Juni während der French Open. Der Ex-Trainer des Serben meint jedoch auch: "Er bewegt sich da wirklich an einer Grenze. Aber da sieht man auch, wie viel Druck da auf ihm gelastet hat." Bei den US Open, die für ihn mit dem größtmöglichen Triumph enden könnten, zieht Djokovic aus den Ausbrüchen Stärke. Sie katapultieren ihn in einen Tunnel. Und genau da will er hin. "Es ist schwer, dieses Element, diesen Tunnel zu erreichen, und es ist noch schwerer, darin zu verweilen. Es ist der am schwierigsten zu erreichende Ort", beschreibt Djokovic den perfekten Zustand.

Ganz klar: Djokovic ist in diesem Gigantenduell der Favorit. Zverev weiß das: "Gegen ihn brauchst du nichts weniger als das möglichst perfekte Match", sagt Zverev, "wenige Fehler. Mut. Entschlossenheit. Eigene Dominanz", beschrieb er seine Situation. "Er ist der beste Spieler der Welt. Es ist sehr schwer, ihn zu schlagen." Aber Zverev kann das, auch in einem großen, dem größten Match des Jahres. "Ich bin der einzige bislang, der ihn in diesem Jahr in einem großen Match besiegt hat."

"... und schon war die Partie vorbei"

Bei den Olympischen Spielen besiegte der Deutsche den Serben in einem verrückten Spiel: Anderthalb Sätze lang sah es nach einer üblen Klatsche aus, "ich war völlig raus aus der Partie, einen Satz und ein Break hinten", erinnerte er sich. Irgendwas aber ging dann in Djokovic kaputt und Zverev erkannte es. Mit dosiertem Risiko aber druckvoller Präzision arbeitete sich der Deutsche zurück ins Match und zog den Serben Ball für Ball aus dem Tunnel heraus. Zverev hatte es geschafft, dem Serben aus seiner Komfortzone zu holen, in der Djokovic unschlagbar ist: "Ich habe ein bisschen an mir gezweifelt, er hat meinen Aufschlag gelesen und selbst fantastisch serviert - und schon war die Partie vorbei."

Und es ist völlig richtig, dass er Stärke aus diesem Erfolg zieht: "Es stellt was mit einem an. Es war anders als jedes andere Match, es waren völlig andere Emotionen", versichert Zverev. "Er ist ein anderer Spieler geworden seitdem", sagt auch Experte Boris Becker bei "Eurosport", "die Last, nicht die richtig großen Siege holen zu können, hat er sich von der Schulter genommen."

Aber das hier heute Nacht, das ist größer. Größer als Olympia. Es geht um Geschichte und darum, die Geschichte auch zu den eigenen Gunsten zu drehen. Djokovic dann zu schlagen, wenn er unschlagbar scheint, wenn der Serbe auf seinem Weg zum Rendezvous mit der Geschichte nichts mehr will, als zu gewinnen, wäre für Zverev ein neuer Meilenstein. Der Deutsche ist schon ein großer Spieler, der erfolgreichste Deutsche seit der glänzenden Ära von Boris Becker und Michael Stich. Einen Makel hat seine Karriere aber noch: Bisher konnte er noch nie einen Top-Ten-Spieler bei einem Grand-Slam-Turnier schlagen.

"Erst nimmt er dir die Beine ..."

In New York geht es um die Ewigkeit und es kann eine Ewigkeit dauern, bis ein Gewinner feststeht. Anders als in Tokio. Wo die "Partei schon vorbei" war, wie Djokovic sagte, finge sie jetzt erst an: Drei Sätze muss man gewinnen, um das Match zu gewinnen. Schlimmstenfalls geht es über fünf Sätze, jeder kann sich eine oder zwei Schwächephasen leisten und am Ende dennoch triumphieren. Oder umgekehrt: Wer gewinnen will, muss dann da sein, wenn der Gegner wackelt. Oder wie Djokovic es sagt: "Die Nerven im Griff haben, die paar wenigen Punkte, die alles entscheiden, konsequent spielen."

Das macht es für Zverev noch komplizierter, denn Djokovic ist mental und körperlich stark dieser Tage. Zuletzt verlor er dreimal in Folge den ersten Satz und kam auch gegen Weltklasseleute wie den italienischen Wimbledon-Finalisten Matteo Berretini trotzdem nie ernsthaft in Schwierigkeiten. Er scheint nahezu nicht bezwingbar. Der Italiener war gut, seine Aufschläge waren hart und präzise - dennoch brachte Djokovic sie wieder und wieder zurück ins Feld.

"Ich habe mein Tennis auf ein anderes Level gehoben. Das waren die drei besten Sätze, die ich in einem Turnier gespielt habe, ganz sicher", sagte Djokovic. "Es spielt keine Rolle, wie gut ich spiele. Er spielt einfach besser", sagte Berrettini zwischen Resignation und Anerkennung. "Erst nimmt er dir die Beine, und dann raubt er deine Seele", beschrieb der einstige Weltranglisten-Erste Andy Roddick die totale Dominanz des Serben pathetisch. Und Djokovic weiß das, er liebt es. "Jetzt ist es Best of Five, jetzt ist es ein Grand Slam", sagt Djokovic: "Ich gehe gern über die volle Distanz. Je länger ein Spiel dauert, desto weniger Probleme habe ich. Fünf Sätze, fünf Stunden - was immer es braucht."

Zverev lebt "extrem durch die Fans"

Aber was immer es braucht, das hat auch Zverev: Der Norddeutsche ist selbst unschlagbar, 16 Matches hat er seit der ersten Runde von Tokio in Folge gewonnen, in New York siegte er dreimal glatt in drei Sätzen. Der Aufschlag, jahrelang oszillierend zwischen Gewinnversicherung und Selbstzerstörung, funktioniert tadellos, die Vorhand ist eine Waffe, die Rückhand auf höchstem Niveau enorm zuverlässig und das Wissen, die großen Matches gewinnen zu können, tut ihm sichtbar gut. Die Physis des 1,94-Meter-Hünen wird immer verblüffender. Und die Zuschauer in New York lieben ihn und Zverev wird aus der Zuneigung positive Energie ziehen, wie es Djokovic umgekehrt mit der Ablehnung tun wird.

"Ich bin jemand, der extrem durch die Fans lebt, durch diese Emotionen. Ich brauche das und liebe das einfach", sagte Zverev RTL/ntv vor den French Open. Das Arthur-Ashe-Stadium, wo das Match in der Night Session (ab 1 Uhr im Liveticker auf ntv.de) stattfinden wird, ist das größte Tennisstadion der Welt - und bis auf den letzten Platz gefüllt. Zverev ist jetzt ganz selbstverständlich ein Weltklassespieler. Was ihm fehlt, ist noch der Grand-Slam-Sieg. Der erste. Er wäre für den Deutschen wohl so bedeutend wie für Djokovic der 21. Triumph.

Im Vorjahr hatte Zverev schon die Hand am Pokal, in einem epischen Finale stand er nur zwei Punkte entfernt vom größten Triumph seiner Karriere. Doch am Ende gewann Kumpel Dominic Thiem die große Schlacht in fünf zermürbenden Sätzen. "Beinahe täglich" denke er an dieses Match, verriet Zverev. Er könnte die bitteren Erinnerungen endgültig tilgen. "Ich bin nicht mehr in einem Status in meiner Karriere, in dem es mir genügt, Teil von guten Matches zu sein. Ich kann mich auch nicht mehr dafür begeistern, in einem Halbfinale gestanden zu haben. Ehrlicherweise hätte das auch für das Finale gegolten", hatte er noch bei den French Open gehadert, wo er gegen den Griechen Stefanos Tsitsipas in fünf Sätzen verloren hatte.

Das war vor Tokio. Nun könnte er sich selbst begeistern. Gewonnen hätte er dann noch nichts. Im Finale würde noch der Russe Daniil Medvedev, die Nummer zwei der Weltrangliste, warten oder Felix Auger-Aliassime. Gegen den Kanadier hatte Zverev im Viertelfinale von Wimbledon verloren. Die letzte große Niederlage des Deutschen. Kommt in den Tagen von New York keine weitere dazu, hätte er Geschichte verhindert und Geschichte gemacht. Deutsche Tennisgeschichte.

Quelle: ntv.de

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