Heißer Tipp an Musiala DFB-Analyse mit Lienen: "Die Schotten waren ja abenteuerlich"
15.06.2024, 01:12 UhrWas für ein beeindruckender Start in die Fußball-EM: Die deutsche Nationalmannschaft kennt keine Gnade mit Gegner Schottland und feiert eine große Auftaktparty in München. Das 5:1 ist eine Machtdemonstration. Oder nicht? Trainer-Legende Ewald Lienen möchte im Interview mit ntv.de zwar "kein Wasser in den Wein gießen", warnt aber vor falschen Erwartungen. Denn die Schotten haben alles falsch gemacht, was sie falsch machen konnten. Beeindruckt ist er von der Gnadenlosigkeit des DFB-Teams und hat einen Rat an Jamal Musiala.
ntv.de: Hallo Herr Lienen, wie ist die Lage?
Ewald Lienen: So, jetzt marschieren wir durch!
Oh, ich wollte eigentlich mit einer typisch deutschen Frage einsteigen, ob das Gegentor wirklich sein musste. Aber ich seh' schon, wir haben andere Dinge zu besprechen. Etwa İlkay Gündoğan und Joshua Kimmich, die in unserem letzten Gespräch nicht so gut wegkamen. Heute waren sie überragend, oder?
Absolut, ja! Aber dann habe ich eben doch eine typisch deutsche Antwort. Die Schotten waren heute nicht auf Augenhöhe. Sie sind uns mit ihrem System total entgegengekommen. Was aber der Sache und dem deutschen Erfolg keinen Abbruch tun soll. Sie hatten eine Fünferkette und haben auf unsere Außenstürmer gewartet, die wir aber so gar nicht auf dem Feld hatten und sie haben unsere Spieler überhaupt nicht unter Druck gesetzt. Ich habe nach dem 0:2 das TV-Bild angehalten und Standfotos der schottischen Aufstellung gemacht. Die Fünferkette steht da sehr tief, knapp vor dem eigenen Sechzehner. Die Kette davor steht dann an der Mittellinie. Da waren die Räume dazwischen gar nicht besetzt. Sie haben drei Innenverteidiger auf Kai Havertz gesetzt. Jamal Musiala, Florian Wirtz und İlkay Gündoğan konnten dahinter frei herumturnen.
Und Gündoğan hat mit dieser Leistung endgültig alle Zweifel widerlegt, dass er unumstrittene Stammkraft im DFB-Team ist?
Er hat wirklich sehr gut gespielt. Aber man muss zwei Dinge festhalten. Erstens ging es gegen Schottland und zweitens wurden ihm große Räume angeboten. Dass er ein Superfußballer ist, ist doch klar, aber so weit vorne zu spielen, bedeutet für ihn, ständig Druck zu haben. Er muss sich dann immer drehen. Das ist nicht seine große Stärke. Wenn er sich heute gedreht hat, war aber keiner da und das hat er überragend ausgenutzt, super Pässe gespielt. Ich habe ja sowieso nichts gegen İlkay. Aber ich glaube weiterhin, dass wir gegen andere Gegner mit einem Außenstürmer spielen müssen. Wir werden nicht immer so viel Platz im Zentrum haben. Die Ukraine und die Griechen zuletzt haben das ja auch deutlich besser gemacht, haben die Räume dicht gehalten. Gegen das System der Schotten und gegen ihre abenteuerliche Positionierung darin hat das alles sehr gut funktioniert. Erst nach dem 0:2 hat sich der Trainer den Spieler Callum McGregor zur Brust genommen und ihn gebeten, sich um Gündoğan zu kümmern.
Und Kimmich war ebenfalls sehr präsent, etwa vor dem 1:0.
Natürlich, Kimmich war fast immer frei, konnte bis zum 16er durchlaufen. Das hat er dann vor dem 1:0 etwa super gespielt auf Wirtz. Aber er hatte in der Defensive dagegen kaum etwas zu tun, keinen Gegenspieler, der ihn gefordert hat. Das wird noch anders werden. Und dann brauchen er und Maxi Mittelstädt auf der anderen Seite dann die Hilfe von den Vorderleuten.
Dann kommen wir mal zu den Toren, das hat doch beim Zuschauen Spaß gemacht ...
... die ersten beiden Tore waren der Dosenöffner und toll gespielt. Das dritte Tor war allerdings abenteuerlich.
Wie meinen Sie das?
Die Szene vor dem Elfmeter gehört für mich zu den Top Ten der brutalsten und gesundheitsgefährdesten Fouls der letzten Jahre. Da kannst du ihm ja den Knöchel brechen!
So jetzt aber zurück zum Glück und ein bisschen Euphorie!
Ich bin wirklich sehr glücklich und freue mich vor allem sehr für die Jungs. So eine Heim-EM, das ist schon ein wahnsinniger Druck. Vorher schien das Auftaktspiel in der Öffentlichkeit ja niemanden wirklich zu beunruhigen. Das habe ich nicht ganz verstanden. Von daher haben sie das super gemacht. Sie haben das taktische Chaos beim Gegner gnadenlos ausgenutzt. Für die Mannschaft und das Turnier ist das einfach super so. Ich will jetzt auch kein Wasser in den Wein gießen ...
... aber?
Man muss schon wissen, warum und weshalb man das heute so geschafft hat. Und man muss sich dann auch entsprechend auf die nächsten Gegner wieder vorbereiten. Aber es hat einfach alles gepasst, du kannst viel Selbstvertrauen aus diesem Auftritt ziehen, viele Jungs haben Spielpraxis bekommen.
Etwa Leroy Sané, den wir in unserem letzten Gespräch nach dem Griechenland-Spiel in die Startelf gerufen hatten!
In Topform ist Leroy auch unverzichtbar für diese Mannschaft. Aber ich gebe Julian Nagelsmann recht, noch hat er nicht die Sicherheit von Anfang an zu spielen. Das hat man heute auch gesehen. In der ersten Szene hätte er gar nicht schießen dürfen. Da wollte er auf die lange Ecke gehen und stand völlig falsch zum Ball. Egal jetzt, es war auf allen Ebenen ein super Einstieg in die gesamte EM. Auch wegen der schottischen Fans übrigens. Das ist einfach eine andere Welt. Das sind einfach super nette Leute. Was ist das für eine unglaubliche Lebensfreude, die die mitbringen? Die unterstützen ihre Mannschaft, auch wenn sie ein bisschen Alkoholmissbrauch betreiben. Sie singen zum Beispiel lustige und selbstironische Lieder, nachdem Antonio Rüdiger ihr Tor geschossen hat. Mir gefallen diese Leute.
Bleiben wir aber noch ein wenig sportlich. Was hat Ihnen beim DFB-Team besonders gut gefallen oder was war nicht so gut?
Wir haben heute mit einer großen Ruhe gespielt und hatten ein deutlich höheres Balltempo als zuletzt. Das brauchst du auf diesem Niveau, damit kannst du die Situationen schnell ändern und auch mal auf dem engsten Raum anlaufen. Was mir auch gefallen hat, waren die Seitenverlagerungen von Toni Kroos. Das ist einfach wie gemalt und wie er die Pässe durch die einzelnen Leute in die Zwischenräume spielt, das ist überragend. Aber alle vorne haben es überragend gemacht.
Und was war nicht so gut?
Vor allem am Anfang, als das Spiel noch umkämpft war, war die Körperspannung nicht gut. Die brauchst du gegen die Schweiz oder Ungarn unbedingt von Beginn an. Du musst nicht den Gegner in deine Schulter rennen lassen und Gelb kassieren wie Robert Andrich, aber du brauchst die Spannung im Zweikampf, darfst dich nicht einfach wegdrängen lassen, wie Wirtz direkt am Anfang. Oder auch Havertz. Mit zunehmendem Selbstvertrauen nach den Toren wurde es besser. Du musst aber die ganze Zeit den Körper einsetzen, dich wehren, gegenhalten.
Und dann möchte ich Musiala, der einer der besten Spieler in Europa ist, noch etwas mitgeben: Versuch es wieder häufiger so zu machen wie gegen Frankreich oder die Niederlande. Das war überragend. Mit das Beste, was ich von ihm gesehen habe. Also im Mittelfeld nur ein, zwei Kontakte setzen und die ganze Kraft im Dribbling erst im letzten Bereich einsetzen. Wie bei seinem Tor gegen die Schotten jetzt, das war Weltklasse. Im Mittelfeld lässt du mal zwei, drei Mann stehen, aber dahinter positionieren sich dann alle anderen wieder. Und du läufst Gefahr, dass du mal richtig einen auf die Knochen bekommst. Wenn du mit wenigen Kontakten agierst, ist das Spiel schneller und du hast mehr Kontersituationen.
Dann bleibt noch Emre Can, was für eine Sensationsgeschichte oder?
Ich bleibe dabei, ich kann den Verzicht auf Leon Goretzka nicht nachvollziehen. Von Anfang an nicht. Wir haben keinen natürlichen Ersatz für Andrich. Das ist kein Pascal Groß und Can ist das nur mit Abstrichen. Goretzka dagegen hat sich die Ansprüche dafür mit seiner Rückrunde erarbeitet. Deswegen finde ich den Verzicht ein wenig despektierlich. Aber vielleicht kenne ich auch bestimmte Hintergründe nicht. Vielleicht hat er einen goldenen Löffel geklaut und die Reifen von Nagelsmann zerstochen. Für mich ist die Nicht-Nominierung von der reinen Leistung her nicht nachvollziehbar.
Aber erst trifft Groß gegen Griechenland und Can nun direkt gegen die Schotten!
Für mich ist das kein Maßstab, dass sie treffen. Und es ist der Klassiker im Fußball. Du kritisierst und dann treffen genau die Spieler. Ich freue mich auch für die beiden und es hat ja nichts mit ihnen persönlich zu tun. Es ist eine grundsätzliche Nominierungssache.
Gut, dann letzter Punkt: Füllkrug oder Havertz?
Was soll das denn für eine Frage sein!
Na, wer von Anfang an spielen soll?
Das ist für mich keine Frage! Lücke kommt rein und macht genau das, was er kann. Er macht ein Tor, dafür ist er da. Aber er kann Havertz nicht ersetzen. Die Mannschaft kann mit Füllkrug nicht auf dem gleichen Niveau weiterspielen. Das ist auch gar nicht schlimm. Also: Keine Frage, Havertz muss spielen!
Mit Ewald Lienen sprach Tobias Nordmann
Quelle: ntv.de