Letzte Watschn für Goretzka Julian Nagelsmann überrascht schon wieder

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Kurz vor dem Turnierstart beklagt das DFB-Team den ersten Ausfall: Aleksandar Pavlović verpasst die Heim-EM. Für das Talent rutscht BVB-Kapitän Emre Can nach. Eine überraschende Entscheidung, für die es aber gute Argumente gibt.

Leon Goretzka sitzt in Norwegen, an einem Fjord. Kein Fußball, nur Entspannen. An kaum einem Ort könnte er weiter von der großen Aufregung entfernt sein, die sich in seiner Heimat zusammenbraut. Dabei wäre er so gerne mittendrin gewesen, wenn die Europameisterschaft an diesem Freitag in München beginnt. Und nicht so weit weg wie an diesem abgelegenen Fjord in Norwegen. Lange hatte er sich dem kompromisslosen Bundestrainer angeboten. Hatte Julian Nagelsmann versprochen, dass er jede Rolle innerhalb der Nationalmannschaft akzeptieren werde. Doch der junge Coach hatte die Rufe und den Spieler schließlich ignoriert. Im EM-Kader war kein Platz für ihn. Goretzka war enttäuscht.

Und seine Enttäuschung dürfte an diesem Mittwoch noch ein wenig größer geworden sein. Denn auf seiner Position beklagt das DFB-Team einen Ausfall. Der junge Aleksandar Pavlović, der durchaus überraschend in das Aufgebot für das Heim-Turnier berufen worden war, muss passen. Die EM findet ohne das erkrankte Talent statt. "Im Moment bin ich sehr traurig, dass der Traum der Heim-EM geplatzt ist! Ich wünsche den Jungs den größtmöglichen Erfolg! Und ich komme stärker zurück!", schrieb er bei Instagram. Schon sein Debüt im Nationalteam hatte Pavlović aufgrund einer Mandelentzündung verschieben müssen. Er müsse sich die Mandeln vielleicht rausnehmen lassen, hatte er kürzlich dem "Münchner Merkur" gesagt. "Während der Saison geht es nicht, dann bin ich komplett raus. Wahrscheinlich werde ich meinen Urlaub dafür opfern müssen." Der Bundestrainer begründete den Verzicht mit den Ausfallzeiten von Pavlović im Trainingslager und in dieser Saison. Die Summe haben dann Zweifel geschürt, dass er noch rechtzeitig spielfit werde. Zudem gebe es das Risiko eines Rückfalls, bei einer schnellen, vollen Belastung.

Nach Völlers Comeback war's das für Can

Nagelsmann reagierte umgehend, als klar war, dass der 20-Jährige nicht mehr fit wird. Und reagierte einmal mehr überraschend. Als Ersatzmann holte er den Dortmunder Kapitän Emre Can, den DFB-Spieler des Jahres 2023 (!), nach Herzogenaurach, also dorthin, wo die Nationalmannschaft derzeit das Fundament für eine erfolgreiche EM-Zeit legen will.

Can kommt mit der Empfehlung von 43 Länderspielen. Das bislang letzte Mal lief er am 12. September 2023 für das DFB-Team auf. Beim Ein-Spiel-Comeback von Interims-Bundestrainer Rudi Völler. Das lustlose Frankreich wurde damals mit 2:1 besiegt. Can spielte an der Seite von Kapitän İlkay Gündoğan auf der Doppel-Sechs, in Dortmund, in seinem heimischen Stadion. Seither war's nix mehr mit Can und der Nationalmannschaft. Er war so weit weg vom Team, wie Goretzka jetzt am Fjord. Seit Nagelsmann im Amt ist, war der Borusse nicht mehr im Kader. Dafür gab es gute Gründe, denn die Leistungen des 30-Jährigen in der schwachen Liga-Saison seines Klubs waren bestenfalls wankelmütig. Für das ausgerufene Leistungsprinzip des Bundestrainers reichte das nicht mehr für eine Nominierung.

"Er kann das Profil gut erfüllen"

Umso überraschender scheint nun sein Comeback. Goretzka hatte mit einer guten Rückrunde mehr Argumente gesammelt, auch der starke Stuttgarter Angelo Stiller, der internationale Begehrlichkeiten geweckt haben soll. Und mit dem Gladbacher Talent Rocco Reitz war ein Mann für die zentrale Position im Mittelfeld ja schon im ersten Trainingslager in Blankenhain dabei gewesen, hatte den reduzierten Kader aufgefüllt, und überzeugt. Warum also Can? Der Bundestrainer begründet das so: "Wir wollen noch einen Sechser im Kader", sagte Nagelsmann, Can habe "sofort seine Begeisterung und Bereitschaft geäußert, zur Mannschaft zu stoßen. Wir wollten noch einen Spieler im Kader haben, der viele Spiele absolviert hat, der weiß, mit dem Druck umzugehen. Er kann das Profil gut erfüllen, das wir jetzt gebrauchen können." Gut, das hätte auch für Goretzka gegolten, mit dem er als Vereinstrainer beim FC Bayern eigentlich sehr gut zusammengearbeitet hatte.

Gegen Goretzka spricht das ausgerufene Rollenverständnis von Nagelsmann, der ganz klar definiert hat, wo die Spieler in der Hierarchie stehen. Goretzka mag eine untergeordnete Position akzeptiert haben, aber Unruhe wäre vorprogrammiert gewesen, wenn ein Konkurrent im Mittelfeld geschwächelt hätte. Als Stammkraft des FC Bayern ist er qua "mia san mia" immer eine Option. Daraus kann ein anderer Anspruch erwachsen, bei sich selbst oder auch in der immer nervösen und debattenfreudigen Öffentlichkeit, als bei einem Pavlović, der zwar auch Stammkraft beim Rekordmeister war, aber eben auch noch ein Neuling ist. Goretzka hat dagegen reichlich Turniererfahrung, aber eben auch reichlich Erfahrung im Scheitern. Womöglich auch noch ein Grund gegen eine (Nach-)Nominierung.

Obacht, Anspruch-Alarm?

Can war dagegen bislang nur bei den Europameisterschaften 2016 und 2021 dabei. In Frankreich scheiterte das DFB-Team im Halbfinale, bei der paneuropäischen EM war im Achtelfinale gegen England Schluss. Die großen Debakel in Russland und Katar musste er dagegen nicht ertragen. Nun rutscht er also wieder rein, der Kapitän des Champions-League-Finalisten. Obacht, Anspruch-Alarm? Nein, Can konnte in der Königsklasse, in Druckspielen (wichtig für die EM womöglich) für sich werben, nach einer insgesamt schwachen Saison aber nur wenige Argumente sammeln, überhaupt dabei zu sein. Aus dem Nichts entsteht kein Stammplatz.

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Das ist, so seltsam das klingt, sein großes Plus. Und das für Nagelsmann. Niemand erwartet Can in der Startelf, niemand wird danach rufen. Er gliedert sich ein, bringt Aggressivität mit und hält das Trainingsniveau hoch. Anders als Goretzka, der mit dem FC Bayern schon länger in der Sommerpause ist, kommt Can aus einer hohen Wettkampfbelastung, das Königsklassen-Finale ist gerade einmal elf Tage her. Für den in dieser Saison sehr starken, aber zuletzt etwas fahrigen Robert Andrich ist das ein guter Herausforderer, ohne dass es großes Konfliktpotenzial gibt.

In München, in der beruflichen Heimat von Goretzka, wird Andrich an der Seite von Toni Kroos beginnen. Can wird auf der Bank sitzen. Und Goretzka (vermutlich) am Fjord.

Quelle: ntv.de

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