Warum gab es keinen Elfmeter? DFB-Team hadert, Experten wüten: Riesenwirbel um spanisches Handspiel
05.07.2024, 21:50 UhrDie zweite Halbzeit der Verlängerung im EM-Viertelfinale zwischen Deutschland und Spanien läuft gerade erst, da gibt es ein klar ersichtliches Handspiel von Marc Cucurella im Strafraum. Die Deutschen fordern vehement Strafstoß. Doch den gibt es nicht. Das löst wilde Diskussionen aus.
In der 106. Minute hätte das EM-Viertelfinale endgültig auf die Seite der deutschen Fußball-Nationalmannschaft kippen können. Denn in dieser Minute sprang der Ball im spanischen Strafraum an die Hand von Marc Cucurella. Dass er den Ball mit dem strafbaren Körperteil berührt hatte, war für jedermann offensichtlich. Aber es gab für die Aktion keinen Strafstoß. Die deutschen Nationalspieler rissen die Arme hoch, waren fassungslos, und forderten den Elfmeter. Aber Schiedsrichter Anthony Taylor sah die Dinge anders und ließ weiterlaufen. Offen blieb, ob Niclas Füllkrug bei der vorausgegangenen Vorlage für Musiala nicht ohnehin im Abseits gewesen wäre.
Zu diesem Zeitpunkt stand es 1:1. Dani Olmo hatte die Spanier kurz nach der Pause in Führung gebracht, Florian Wirtz rettete das DFB-Team in der 89. Minute in die Verlängerung. Dort waren die Deutschen dem Siegtreffer lange näher. Doch er fiel schließlich für Spanien. Mikel Merino drückte den Ball in der 119. Minute ins Tor. "Der Schiedsrichter hat auch ein bisschen für Spanien gepfiffen", kritisierte Bundestrainer Julian Nagelsmann nach dem 1:2 (1:1, 0:0) nach Verlängerung bei MagentaTV. Es sei "ein Thema, das schwer zu bewerten ist. Es wäre fußball-like, wenn man bewertet, ob der Ball in die Stuttgarter Altstadt fliegt - dann wäre es niemals Elfmeter."
Tore: 1:0 Olmo (51.), 1:1 Wirtz (89.), 2:1 Merino (119.)
Spanien: Simón - Carvajal, Le Normand (46. Nacho), Laporte, Cucurella - Rodri - Pedri (8. Olmo), Fabián Ruiz Peña (102. Josélu) - Yamal (63. Torres), Williams (80. Merino) - Morata (80. Oyarzabal); Trainer: de la Fuente
Deutschland: Neuer - Kimmich, Rüdiger, Tah (80. Müller), Raum (57. Mittelstädt) - Can (46. Andrich), Kroos - Sané (46. Wirtz), Gündoğan (57. Füllkrug), Musiala - Havertz (91. Anton); Trainer: Nagelsmann
Schiedsrichter: Anthony Taylor (England)
Gelbe Karten: Le Normand, Torres, Simón, Rodri, Fabián Ruiz Peña - Rüdiger (2), Raum, Andrich (2), Kroos, Mittelstädt (2), Schlotterbeck, Wirtz, Undav
Gelb-Rote Karte: Carvajal (Spanien) wegen Foulspiels (120.+6)
Zuschauer: 51.000 (ausverkauft) in Stuttgart
Wenn der Ball aber auf das Tor gehe, ergänzte Nagelsmann, "dann ist es klar Elfmeter". Musialas Schuss sei "sehr gut gewesen, der geht wahrscheinlich sogar rein, und die Hand ist weit weggestreckt". Er wolle, sagte er später bei der Pressekonferenz, "nicht rumjammern". Aber: "Unabhängig von uns, für alle anderen Turniere und Spiele wäre es schön, wenn man auch bewerten würde, was mit dem Ball auch passiert." Der Bundestrainer sprach sich auch für den Einsatz neuer Technik aus. "Es gibt 50 Roboter, die uns Kaffee bringen, dann gibt es auch KI, die berechnet, wo die Flanke runterkommt."
Joshua Kimmich haderte: "Wir haben eigentlich noch einen Handelfmeter vor dem 2:1, da ist schon sehr viel gegen uns gelaufen leider." Der Video Assistant Referee (VAR) hatte in der Szene nicht eingegriffen. Laut ARD-Expertin Bibiana Steinhaus griff er nicht ein, weil es sich um keine klare Fehlentscheidung handelte. "Der Schuss kommt aus einer kurzen Distanz, ist wahnsinnig scharf geschossen. Ist es eine unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche - ja oder nein? Der Schiedsrichter hat sich dafür entschieden, dass es eine relativ natürliche Bewegung ist." Der Videoassistent könne nicht unterstützen, "weil es keine glasklare Fehlentscheidung ist".
"Für was willst du sonst noch Elfmeter geben?"
"Ein klareres Handspiel gibt es nicht im Fußball", sagte derweil Michael Ballack bei MagentaTV. "Das ist eine klare Fehlentscheidung." Er wisse nicht, ob Taylor und sein Team sich "aus Angst oder Respekt" gegen einen Elfmeter entschieden hätten. "Die Entscheidung wird so oder so nicht zurückgenommen, egal, ob er ihn gibt oder nicht. Ich bin aber eher bei Handspiel", antwortete Schiedsrichter Patrick Ittrich. "Cucurella zieht während des Schusses die Hand aus der Schussbahn, so könnte man es argumentieren. Und deswegen hat der VAR den Schiedsrichter nicht rausgeschickt. Weil, wenn der Schiedsrichter dort steht und sieht, dass der Spieler die Hand aus der Schussbahn zieht, welche anderen Bilder soll der VAR ihm dann geben? Dann steht er draußen und sagt: 'Das ist 50:50'. Dieses Handspiel macht das ganze Dilemma des Handspiel-Problems und der Regel sichtbar."
Das wollten Ballack und Weltmeister Shkodran Mustafi, der ebenfalls als Experte bei MagentaTV arbeitet, nicht akzeptieren. "Es ist ja egal, ob er versucht, die Hand wegzuziehen, er steht im Weg", sagte Mustafi. Ballack fand: "Es ist ein Torschuss, er blockt ihn mit abgespreizter Hand. Für was willst du sonst noch Elfmeter geben?"
"Diese Handregel ist einfach erbärmlich"
Der Wortlaut der Handspielregel im Regelbuch des International Football Association Boards (IFAB) heißt so: "Für die Beurteilung von Handspielvergehen gilt, dass die Grenze zwischen Schulter und Arm (bei angelegtem Arm) unten an der Achselhöhle verläuft. Nicht jede Ballberührung eines Spielers mit der Hand/dem Arm ist ein Vergehen. Ein Vergehen liegt vor, wenn ein Spieler:
- den Ball absichtlich mit der Hand/dem Arm berührt (z.B. durch eine Bewegung der Hand/des Arms zum Ball)
- den Ball mit der Hand/dem Arm berührt und seinen Körper dabei aufgrund der Hand-/Armhaltung unnatürlich vergrößert. Eine unnatürliche Vergrößerung des Körpers liegt vor, wenn die Hand-/Armhaltung weder die Folge einer natürlichen Körperbewegung des Spielers in der jeweiligen Situation ist noch mit dieser Körperbewegung gerechtfertigt werden kann. Mit einer solchen Hand-/Armhaltung geht der Spieler das Risiko ein, dass der Ball an seine Hand/seinen Arm springt und er dafür bestraft wird.
- ins gegnerische Tor trifft: direkt mit der Hand/dem Arm (auch wenn dies versehentlich geschieht) oder unmittelbar, nachdem er den Ball mit der Hand/dem Arm berührt hat (auch wenn dies versehentlich geschieht)
Ex-Referee Manuel Gräfe attestierte Taylor ein "schwaches Spiel". Aus seiner Sicht sei es ein "strafbares" Handspiel gewesen, schrieb Gräfe bei X. Thomas Hitzlsperger, ehemaliger Nationalspieler und Co-Kommentator in der ARD, verstand die Welt nicht mehr: "Mir leuchtet es nicht ein. Ich würde sagen, in neun von zehn Fällen wird hier auf Elfmeter entschieden. Warum die deutsche Mannschaft hier keinen bekommt, ist mir ein Rätsel." Auch ntv.de-Experte Ewald Lienen war nicht einverstanden: "Diese Handregel ist einfach erbärmlich."
Quelle: ntv.de, tno