Die schönste Geschichte der EM Das "Biest" Popp verzaubert ganz Deutschland
28.07.2022, 11:37 Uhr
Deutschland feiert mit dem DFB-Team und mit Alexandra Popp. Die Stürmerin des VfL Wolfsburg erzählt die wohl beeindruckendste Geschichte dieser Fußball-EM. Von der Rolle der Reservistin steigt sie auf bemerkenswerte Weise zur Anführerin dieser begeisternden Mannschaft auf.
Alexandra Popp ist ein Monster. Und das ist im allerbesten Sinne. Wieder einmal fraß die deutsche Kapitänin die Träume des Gegners. Gegen das euphorische Österreich kassierte sie die Sehnsucht nach der Sensation und nun, an diesem Mittwochabend, torpedierte die 31-Jährige Frankreich aus dem Turnier. Und torpedieren ist durchaus wörtlich zu nehmen. Ihre beiden Tore beim 2:1-Erfolg im Halbfinale waren zwei krachende Statements voller Gier und Leidenschaft. Sie waren zwei Tore voller Popp. Das 1:0 drückte sie aus kurzer Distanz wuchtig unter die Latte. Beim 2:1 drückte sie sich zwischen die beiden Innenverteidigerinnen Griedge Mbock Bathy und Wendie Renard, stieg am höchsten, was angesichts der 187 Zentimeter von Renard durchaus erstaunlich war, und traf.
"Ich bin ein wenig sprachlos, um ehrlich zu sein. Was wir wieder auf den Platz gebracht haben - mit unfassbarer Energie, mit einer Defensivarbeit, die echt brutal war", schwärmte Popp. "Wie wir gerade auf dem Platz zusammenstehen, das macht mich unglaublich stolz. Ich bin schon seit zehn Jahren dabei - und so einen Teamspirit, so ein Teamgefüge habe ich ganz ehrlich noch nie erlebt."
Tatsächlich ihre erste EM
Fünf Spiele sind bei dieser EM gespielt, sechs Mal hat Alexandra Popp getroffen. Sie steht gemeinsam mit der Engländerin Beth Mead auf Platz eins der Torschützinnenliste. Am Sonntag kommt es zum direkten Duell, also nicht der beiden Stürmerinnen, die werden jeweils von anderen Spielerinnen in Obhut genommen, sondern der beiden Nationalmannschaften. Und deren Geschichte erzählt sich ähnlich. Beide Mannschaften haben in ihrem Land für eine gigantische Begeisterung gesorgt. Für ehrliche Begeisterung. Frei von Inszenierungen, von großer Show (die kein Mensch braucht) und Marketing-Claims. In England erzählt das kleine tanzende Mädchen auf den Tribünen der Bramall Lane in Sheffield die Geschichte einer ganzen Mannschaft. In Deutschland ist es Popp.
Ihre Story ist mittlerweile bekannter als die von vielen männlichen Kollegen aus der A-Nationalmannschaft. Popp erzählt eine klassische Auferstehungsgeschichte. Eine Heldengeschichte gegen alle Widerstände. Diese EM, es ist ihre EM. Es ist tatsächlich ihre erste Europameisterschaft. Und das nicht, weil sie eine späte Durchstarterin ist, sondern weil ihre Karriere gepflastert ist mit Rückschlägen. Mit Verletzungen. Vor dem Turnier 2013 riss sie sich das Außenband im Knie, 2017 zerfetzte ein Meniskusriss alle Träume. Hätte Corona die EM nicht von 2021 nach 2022 gezwungen, Popp wäre auch nun nicht dabei gewesen: Ein Knorpelschaden im Mai 2021 sorgte für eine ewige Pause. Popp musste lange zittern und hart arbeiten, bis die Rückkehr perfekt war.
Vielleicht half ihr dabei, dass sie aus Witten kommt. Aus dieser kleinen Kohle- und Stahlstadt zwischen den großen alten Industriestädten Dortmund und Bochum. Dort, wo die Maloche die DNA der Menschen ist. Ihr Weg zurück, ihr ständiger Kampf mit dem eigenen Körper erfährt nun in England die Belohnung. Es ist eine märchenhafte Reise, über die ihre Kolleginnen staunen, die das Land fasziniert. Nie war Popp wichtiger als im Sommer 2022. Sie selbst spürt das. Sie selbst lebt das. "Man hat's ja bei meinem allerersten Tor hier gesehen, aber auch in den anderen Spielen, dass ich doch ein Stück weit emotionaler bin, als ich vielleicht sonst immer war", sagt sie.
Ein emotionales Dankeschön
Und im Moment des großen Glücks, denkt sie dann doch ein bisschen an den harten Weg, den sie gegangen ist, den sie gehen musste. "Hier zu stehen und die Möglichkeit zu haben, so zu performen, Gott sei Dank im richtigen Moment auch fit zu sein - das macht mich natürlich sehr, sehr stolz", bekannte die Stürmerin des VfL Wolfsburg. "Da muss ich auch einen ganz, ganz großen Dank an alle richten, die mit mir diesen Weg gegangen sind. Ich bin unfassbar glücklich, dass ich hier spielen darf und dass wir es ins Finale geschafft haben."
Popp darf spielen. Sie muss sogar. Eine ausgemachte Sache war das vor dem Turnier nicht. Eigentlich galt Lea Schüller als erste Wahl im Zentrum. Doch dann erwischte sie Corona. Schüller musste in Isolation. Es ist schon eine besondere Pointe, dass ausgerechnet Popp, die so oft verletzte, nun einmal vom Pech einer Konkurrentin profitiert. Zu den Unwägbarkeiten dieser Geschichte gehört aber nicht nur die eigentlich vorgesehene Rolle als Reservistin, sondern auch die Position, die sie nun spielt. Im Klub war sie zuletzt nicht mehr Stürmerin, sondern hatte ihren Platz im Mittelfeld. Aber es ist eben Teil dieser Heldengeschichte. Popp warf sich rein, sie marschierte und malochte sich in das Herz der Nation. Sie war endlich das, was sie längst sein sollte. Die Schlüsselspielerin.
"Das brauchen wir von ihr"
Sie ist vielleicht nicht die eleganteste Fußballerin, nicht die spektakulärste, aber in England ist sie die gierigste. "Poppi ist einfach ein Biest da vorne drin", sagte die junge und beeindruckende Mittelfeldchefin Lena Oberdorf über die Serienknipserin: "Das brauchen wir von ihr." Popp geht jeden Weg auf dem Platz. Sie lungert nicht, sie lauert. Überall. Sie erzwingt Fehler, wie gegen Österreich. Sie boxt sich gegen jede Gegenspielerin vehement durch. Sie kann aber auch austeilen, wenn nötig. Und woher diese Gier kommt, das weiß die Stürmerin selbst am besten: "Um ehrlich zu sein, habe ich das Gefühl, dass ich das alles gerade viel, viel mehr erlebe. Die Momente viel mehr genieße. Und - ja - den Fußball selbst noch mehr schätze als zuvor. Wieder hier stehen zu können, das schätze ich unglaublich."
Geschätzt, nein, geliebt wird die ausgebildete Tierpflegerin von ihren Mannschaftskolleginnen. Als die Party auf dem Platz losgehen sollte, schauten sie sich um. Popp war nicht da. Sie musste die Ehrung als beste Spielerin der Partie in Empfang nehmen. Das Team plante um, rannte zu "Poppi" und feierte. Den Einzug ins Finale. Aber noch mehr ihre erstaunliche Anführerin. Ihr Tor- und Mentalitätsmonster. "Kein Schwein hat mit uns gerechnet. Und nun spielen wir in Wembley im Finale gegen England vor 90.000 Fans. Das war unser Traum - den haben wir uns erfüllt." Es soll nicht der letzte gewesen sein.
Quelle: ntv.de