Für Ukraine geht es um mehr Der EM-Teilnehmer, der eine unvorstellbare Last schultert

Die aktuelle ukrainische Nationalelf ist vielleicht die vielversprechendste, die das Land bislang hatte.

Die aktuelle ukrainische Nationalelf ist vielleicht die vielversprechendste, die das Land bislang hatte.

(Foto: picture alliance/dpa)

Bei der Fußball-Europameisterschaft spielt das Team der Ukraine nicht nur für den sportlichen Erfolg, sondern auch gegen den Krieg. Doch nicht nur deshalb ist die Mannschaft besonders.

Es gibt viele Geschichten über die Fußball-Weltmeisterschaft 2006, die immer wieder erzählt werden. Fanmeile, Sommermärchen, Fahnenmeer: Es waren die 30 Tage, in denen sich die Deutschen selbst und vielleicht auch die ganze Welt mit ihrer Gastfreundschaft überraschten. Doch es gibt auch Geschichten aus diesen vier Wochen zwischen dem 9. Juni und dem 9. Juli, die mittlerweile in Vergessenheit geraten sind. Nicht nur hierzulande wurde damals gefeiert. Für einen WM-Neuling ist das Turnier bis heute besonders: für die Ukraine.

Das Land erlebte zu dieser Zeit eine schwierige Phase. Die Folgen der Orangen Revolution 2004 wühlten die Ukraine auf. Dem prorussischen Präsidentschaftskandidaten Wiktor Janu­ko­witsch war Wahlfälschung vorgeworfen worden. Die Menschen brachte das auf die Straße - und sie hatten Erfolg. Am Ende gewann der prowestliche Kandidat Wiktor Juschtschenko die wiederholte Stichwahl. Die erfolgreichen Proteste waren ein Grundstein für die Euromaidan-Bewegung zehn Jahre später.

Freudentaumel in Gelb und Blau: Fans feierten ihre Nationalelf während der WM 2006 in Kiew.

Freudentaumel in Gelb und Blau: Fans feierten ihre Nationalelf während der WM 2006 in Kiew.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Mitten in dieser politisch unruhigen Zeit qualifizierte sich die Ukraine erstmals für eine Fußball-WM - und schaffte es direkt ins Viertelfinale, unter die besten Acht der Welt. "Das war schon etwas ganz Besonderes", erinnert sich der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy. Er selbst ist fußballbegeistert und arbeitete früher als Sportreporter, irgendwann lernte er aus Interesse am deutschen Sport dann auch Deutsch. Zunächst überstand das Team die Gruppenphase gegen Spanien, Saudi-Arabien und Tunesien.

Das anschließende Achtelfinale gegen die Schweiz war nach Trubetskoys Einschätzung "eventuell das langweiligste WM-Spiel aller Zeiten". 0:0 nach 90 Minuten, 0:0 nach 120 Minuten, die Eidgenossen blieben sogar im Elfmeterschießen torlos. Sie trafen aus elf Metern kein Mal, die Ukraine verschoss nur einmal und durfte nach drei Treffern weiterfeiern. "Da haben sich Leute auf der Krim, aus dem Donbass, tief im Westen in Lwiw, gleichermaßen über das Abschneiden des ukrainischen Teams gefreut", sagt Trubetskoy. Schluss war erst im Viertelfinale beim 0:3 gegen den späteren Weltmeister Italien.

"Dringend gebraucht"

Und nun, 18 Jahre später, spielen die besten Fußballer der Ukraine wieder ein besonderes Turnier. Wieder findet es in Deutschland statt. Die Europameisterschaft steht für das eigentlich fußballbegeisterte Land unter den schwierigsten Vorzeichen. "Leider ist Fußball nicht die Nummer eins", sagte Trainer Serhij Rebrow. Das sei einmal anders gewesen, doch seit mehr als 830 Tagen wehrt das Land die russische Invasion ab. Seit Februar 2022 bestimmt dieser Krieg mit all seinem Leid und der Zerstörung den Alltag der Menschen.

Dass 90 Minuten Fußball reichen sollen, für kurze Zeit aus dieser Realität zu entfliehen, klingt wie ein abgegriffenes Klischee. Doch am Ende sind die 22 Männer, die einem runden Stück Kunststoff hinterherrennen, genau das: Ablenkung. "Das ließ sich in den vergangenen Wochen immer wieder beobachten", sagt Trubetskoy. Zunächst beim Eurovision Song Contest im Mai, dann beim großen WM-Boxkampf von Oleksandr Ussyk gegen Tyson Fury: Immer wieder fanden sich Menschen in der Ukraine zusammen, um die Events gemeinsam zu schauen und dann erst am nächsten Morgen, nach Ende der Sperrstunde, heimzufahren. "Solche Ereignisse verändern nicht unbedingt die gesellschaftliche Lage, aber sie werden dringend gebraucht", sagt Trubetskoy.

Denn auch im dritten Kriegsjahr werden die Dinge nicht einfacher. "Kriegsmüdigkeit ist kein Wort, das ich gerne benutze, aber die Leute sehnen sich nach guten Tagen", erklärt Trubetskoy. Die Russen haben vor einiger Zeit eine Offensive in Charkiw, im Nordosten der Ukraine gestartet. In diesem Jahr geht es militärisch vor allem ums Durchhalten, bis die langersehnten Waffen- und Munitionslieferungen aus dem Westen eintreffen. Innenpolitisch zeichnen sich harte Entscheidungen ab: Im Sommer könnte es Steuererhöhungen geben und die Frage der Mobilisierung schwebt über allem.

Zu Gast bei Freunden

Einen Eindruck davon, was in diesen Zeiten 90 Minuten leisten können, lieferte das torlose Testspiel gegen das DFB-Team in Nürnberg. Während sich die deutschen Fans auf den Weg zum Stadion machten, mischten sich unter sie auch einige, die in ukrainische Flaggen gehüllt waren. Manche Fans unterstützten sogar beide Teams: Sie trugen ein Deutschlandtrikot, darüber einen blau-gelben Schal. Immer wieder hallte es, lauter als vom deutschen Anhang, durch das Stadion: "Ukraine, Ukraine". Zur Halbzeit kam ein Ukrainer zur Pressetribüne und fragte nach der ausgedruckten Aufstellung, um sie dann einer Frau im Rollstuhl als Erinnerungsstück zu überreichen.

Wie schon beim 1000. Länderspiel des DFB im vergangenen Jahr war die Ukraine wieder zu Gast bei Freunden. Damals lud der Verband Geflüchtete zum Spiel ein, diesmal verkündete DFB-Präsident Bernd Neuendorf eine Kooperation in der Jugendarbeit. Nach anfänglichen Schwierigkeiten haben sich die deutsch-ukrainischen Beziehungen gewandelt: Kein Land hat in absoluten Zahlen mehr Geflüchtete als Deutschland aufgenommen, auch bei der Militärhilfe ist die Bundesrepublik führend dabei. "Mittlerweile sind die Beziehungen auf einem All-Time-High", sagt Trubetskoy.

Doch auch, wenn ein Spiel wie das in Nürnberg die Menschen zumindest für einen Abend ablenkt, überschattet der Krieg alles. Fans in der Ukraine konnten das Spiel wegen der Sperrstunde nicht in Bars verfolgen. Und während das DFB-Team eine Chance nach der anderen vergab, fiel im Raum Kiew der Strom aus. Russland hat die ukrainische Energieinfrastruktur nachhaltig beschädigt. Ähnliche Aussichten bringt auch die EM. Es wird kaum möglich sein, das Land zu verlassen, um die Nationalelf in Deutschland spielen zu sehen. "Die Menschen meistern seit zwei Jahren einen sehr schwierigen Balanceakt", sagt Trubetskoy. "Man kann nicht zwei Jahre zu Hause sitzen und traurig sein." Große Partys und Public Viewing gehen in Kriegszeiten aber auch nicht.

Die beste ukrainische Mannschaft aller Zeiten?

Und vielleicht kommt da der Fußball ganz gelegen. Schon sechs Monate nach Kriegsbeginn nahm die ukrainische Liga den Spielbetrieb wieder auf. Zunächst vor leeren Rängen, später wieder vor Fans. Nicht alle fanden das gut, doch die Rückkehr hatte Gründe. "Es gibt die politische Entscheidung von oben, dass der Fußball weiterlaufen soll, um zu zeigen, dass die Ukraine nicht nur Leid und Tränen ist", sagt Trubetskoy.

Für die EM 2000 konnten sich die Ukraine und Andrij Shevchenko nicht qualifizieren.

Für die EM 2000 konnten sich die Ukraine und Andrij Shevchenko nicht qualifizieren.

(Foto: IMAGO/Golovanov + Kivrin)

Genau das kann auch die ukrainische Fußball-Nationalmannschaft während der EM zeigen. "Natürlich ist es schwierig, verschiedene Generationen zu vergleichen", sagt Trubetskoy, "aber man kann bei der aktuellen Nationalelf von der besten der Geschichte sprechen." Ende der 1990er-Jahre gab es eine Mannschaft um den heutigen Verbandspräsidenten und AC-Milan-Ikone Andrij Shevchenko, die zwar ähnlich talentiert, aber international kaum erfolgreich war.

"Alleine die Torwartposition zeigt die Qualität des Kaders", sagt Trubetskoy. Bei Real Madrid hatte Andriy Lunin mit seinen Paraden einen großen Anteil daran, dass die Königlichen die Champions League gewannen. Derweil ließ Anatolij Trubin von Benfica Lissabon am Montagabend die DFB-Offensive bei der EM-Generalprobe verzweifeln. Und, nicht zu vergessen, gibt es auch noch den im restlichen Europa weniger bekannten Georgiy Bushchan von Dynamo Kiew. Auch, wenn Lunin wohl die Nummer eins für das Turnier sein wird, ist er nicht konkurrenzlos.

Große Hoffnung, großer Druck

Was bei den Torhütern beginnt, setzt sich auf den restlichen Positionen fort. Da ist Mychajlo Mudryk, der offensive 100-Millionen-Euro-Mann vom FC Chelsea. Oder Linksverteidiger Oleksandr Zinchenko, der mit dem FC Arsenal knapp die englische Meisterschaft verpasste. Im Mittelfeld zieht Spielmacher Heorhij Sudakow vom CL-Teilnehmer Shakhtar Donezk die Fäden. Und neben dem noch aus BVB-Zeiten bekannten Andrij Yarmolenko ist da auch noch Artem Dovbyk. Der spanische Torschützenkönig sorgte mit dem FC Girona in der vergangenen Saison für viel Aufsehen.

Mehr zum Thema

Und doch: Kein anderes Team bei der Europameisterschaft schultert eine solche Last wie die Ukraine, die weit über das Sportliche hinausreicht. Eine ganze Nation hofft auf die Ergebnisse der Ukraine. Seine "Jungs", sagte Nationalcoach Rebrow, spielen "besonders für die Menschen, die weiterhin jeden Tag unser Land vor dem Feind verteidigen müssen". Dabei können sie sich auch auf den Rebrow verlassen. "Er ist vielleicht der talentierteste Trainer, den die Ukraine hat", sagt Trubetskoy. Die Dynamo-Kiew-Ikone weckte in dem Team eine bislang ungekannte Charaktereigenschaft: das Drehen von Rückständen. So wie sie es in den beiden EM-Playoffspielen gegen Bosnien-Herzegowina und Island machten. Es ist ein Indiz, dass die Mannschaft mit Druck umgehen kann.

Hinzu kommt, dass auch die EM-Gruppe machbar scheint. Mit Belgien, Rumänien und der Slowakei wäre es zumindest keine große Überraschung, die K.-o.-Runde zu erreichen, schon Platz drei könnte reichen. Auch der Spielplan meint es mit den Ukrainern gut: Sie haben in der Gruppenphase keines ihrer Spiele am Abend, zumindest die Sperrstunde ist damit kein Problem. "Ich glaube, dass bei dieser EM einiges möglich ist", sagt Trubetskoy. Und wer weiß, vielleicht reicht es diesmal sogar weiter als das Viertelfinale.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen