Dunkle Wolken über DFB-Quartier Rächt sich nun Nagelsmanns riskanter Plan ohne Hummels?
24.06.2024, 13:59 Uhr
Julian Nagelsmann berief Mats Hummels nicht in den DFB-Kader für die EM.
(Foto: IMAGO/Schüler)
Abwehrschock für die deutsche Nationalelf: Nach der Sperre von Jonathan Tah fällt Antonio Rüdiger wohl für das EM-Achtelfinale aus. Weil Mats Hummels nicht nominiert wird, müssen im ersten echten Stresstest unerfahrenere Verteidiger ran. Julian Nagelsmanns Plan ohne Hummels gerät unter Druck.
Sommer in Deutschland, dunkle Wolken über Herzogenaurach? Die Stimmung im DFB-Quartier dürfte trotz des späten Ausgleichstreffers zum 1:1 gegen die Schweiz, der am Sonntagabend den Gruppensieg bei der Heim-EM bedeutete, einen herben Dämpfer erhalten haben. Der Grund: Die gesamte Innenverteidigung fällt aus. Gedanken an Mats Hummels ploppen zwangsläufig auf.
Im letzten Gruppenspiel muss die Abwehr Deutschlands mehr arbeiten, kratzen und beißen als in beiden Partien zuvor. Die Eidgenossen bereiten Antonio Rüdiger, Jonathan Tah und Co. gehörig Sorgen. Teilweise schwimmen die DFB-Verteidiger sogar, sehen beim Gegentor allesamt nicht gut aus, sind zu weit weg von den Gegenspielern. Auch die Außenverteidiger Joshua Kimmich und Maxi Mittelstädt geben kein absolut sicheres Bild ab.
Doch damit nicht genug. Nachdem sich Tah eine unnötige Gelbe Karte, die zweite im Turnier, abholt und damit im ersten Alles-oder-Nichts-Spiel am Samstag (21 Uhr) in der stimmungsvollen Dortmunder Fußball-Arena gesperrt fehlt, ereilt die Nationalelf am Tag danach die nächste Hiobsbotschaft: Rüdiger fällt mit einer Muskelzerrung im hinteren rechten Oberschenkel aus.
Kann Nagelsmanns Plan gut gehen?
Wie das bei Zerrungen so ist: Genau lässt sich noch keine Prognose treffen. Aber jeder Fußballer weiß, dass solch eine Verletzung schmerzhaft ist und sich ziehen kann. Rüdiger will nun sicherlich keinen Muskelriss riskieren, indem er den Oberschenkel zu früh wieder voll belastet und schnelle Bewegungen durchführt. Ein Ausfall am Wochenende ist also gut möglich.
"Die Sperre von Jonathan Tah wiegt schwer, aber wir werden das auffangen", sagte Mittelfeld-Anführer Toni Kroos nach dem Remis gegen die Schweiz. Da wusste er aber noch nichts von der Verletzung Rüdigers. Nun müssen die jungen und auf Turnier- und Länderspiel-Ebene unerfahrenen Abwehrspieler im ersten absoluten Druck-Spiel der EM ran: Nico Schlotterbeck (24 Jahre, 13 Länderspiele mit vier Siegen, sieben Remis und zwei Niederlagen), Robin Koch (27 Jahre, neun Länderspiele mit drei Siegen, fünf Remis und einer Pleite) und Waldemar Anton (27 Jahre, eine Minute Länderspielerfahrung gegen Frankreich im März, 90 Minuten gegen die Ukraine Anfang Juni) stehen bereit.
Kann das gut gehen? Julian Nagelsmanns Plan ist riskant, er setzte nicht nur auf Qualität, sondern auch auf charakterliche Eigenschaften bei seiner Kaderzusammenstellung. Für den Teamgeist, für die Stimmung im Quartier, für den Zusammenhalt auf der Bank. Der Plan könnte aufgehen, wenn jeder in der Mannschaft für den nächsten kämpft. Wenn die unerfahrenen Verteidiger von den alteingesessenen Nebenleuten unterstützt werden. Außerdem haben alle drei Startelf-Kandidaten (Schlotterbeck dürfte sicher für Tah ins Spiel gehen) in der Bundesliga und auf europäischer Ebene ihre Qualität unter Beweis gestellt und brennen auf eine Chance wie diese.
Hummels hätte Helfer-Attribute
Der Plan könnte sich aber auch rächen. Schlotterbeck spielte zwar eine starke Rückrunde, erlebte 2022 jedoch ein schlimmes Turnier in Katar. Nach der Auftaktpleite in der Wüste gegen Japan war es der Dortmunder, der im Fokus der Kritik stand. Koch und Anton müssen erst noch beweisen, wie sie einen Stresstest auf dieser Ebene bewältigen können.
Einer, der dies etliche Male unter Beweis gestellt hat, durfte nicht mitfahren zur Heim-EM: Mats Hummels, dessen Vertrag beim BVB jüngst nicht verlängert wurde. Wäre solch ein Abwehrspieler mit großer Erfahrung, der auch noch offensiv mit Kopfbällen für Gefahr sorgt, nicht genau der richtige für ein Achtelfinalspiel? Gerade in Dortmund, wo er insgesamt 13 Jahre lang malochte, grätschte und Außenristpässe spielte?
Gewiss, der 35-Jährige ist nicht mehr der schnellste und wendigste Innenverteidiger, macht das aber meist mit optimalem Stellungsspiel wett. Die kleinen internationalen Kniffe und Tricks, die es im Spiel gegen die ganz Großen braucht, hat Hummels im Schlaf drauf. In dieser Saison lief er wieder einmal zur absoluten Höchstform auf, verteidigte besonders in der Königsklasse alles und jeden weg. Für einen Kopfballtreffer wie im WM-Viertelfinale gegen Frankreich 2014 ist er immer noch gut, wie er im Halbfinale der Champions League bei Paris Saint-Germain zeigte, als er zum 1:0-Siegtreffer einnickte.
Wahrheit zeigt sich im DFB-Achtelfinale
Bundestrainer Nagelsmann wird sich seinen Teil gedacht haben, als er seinen Kader zusammenstellte. Der genaue Grund, aus dem er Hummels nach einer Top-Saison nicht mitnahm zur EM, ist öffentlich nicht bekannt. Genauso wenig, ob es bei dieser Personalentscheidung eher um sportliche oder um andere Aspekte ging. Zu viel Kritik am damaligen BVB-Trainer Edin Terzić? Zu laut in Interviews? Zu viel Charakter und Ego? Persönliche Differenzen? Alles nur Mutmaßungen.
Nach dem Schweiz-Spiel lobte Nagelsmann explizit seine Ersatzleute, die nicht frusten, sondern liefern, sobald sie eine Chance erhalten. "Deswegen haben wir es so gemacht", sagte der Bundestrainer zur Konkurrenzsituation. Hätte sich Hummels schweigend (und jubelnd) auf die Bank gesetzt, bis zu seinem ersten Ersatz-Einsatz? Auch darauf wird es keine Antwort geben, wenngleich sich Hummels etwa für eine EM-Nominierung Schlotterbecks deutlich ausgesprochen hatte.
Klar ist nur: Deutschland steht vor dem Achtelfinale gegen England, Dänemark, Serbien oder Slowenien defensiv unter Druck. Zwei von drei relativ unerfahrenen Abwehrmännern werden wohl die Innenverteidigung bilden und müssen den Laden zusammenhalten. Der erfahrene Abwehrchef Mats Hummels kann nicht helfen - und das Urteil über Julian Nagelsmanns Plan wird am Samstag gegen 23 Uhr gefällt.
Quelle: ntv.de