Spielabbruch nach Eriksen-Drama? "Eine kaum schulterbare Verantwortung"
13.06.2021, 13:51 Uhr
Eriksen wurde nach der Wiederbelebung auf dem Feld umgehend ins Krankenhaus gebracht.
(Foto: AP)
Der Zusammenbruch von Christian Eriksen schockiert Menschen weit über die Fußball-EM hinaus. Nachdem der dänische Nationalspieler medizinisch versorgt wurde und ersten Nachrichten zufolge "wach" und "stabil" auf dem Weg ins Krankenhaus ist, bleibt die Partie der Gruppe B zwischen Dänemark und Finnland vorerst unterbrochen. Dass danach zu Ende gespielt wird, löst Zustimmung bei den einen und Unverständnis bei den anderen aus. Wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist, welche Überlegungen darauf Einfluss haben und ob Schiedsrichter Anthony Taylor den Wunsch der Teams, weiterzuspielen, hätte ablehnen können. Darüber sprechen wir mit unserem Schiedsrichter-Experten Alex Feuerherdt von "Collinas Erben".
ntv.de: Die Fortsetzung nach mehr als 90 Minuten sorgt für Diskussionen, immerhin musste Eriksen laut des dänischen Mannschaftsarztes ins Leben "zurückgeholt" werden. Aber wer entscheidet in einem solchen Moment eigentlich darüber, ob so ein Spiel fortgesetzt wird?
Alex Feuerherdt: Grundsätzlich der Schiedsrichter, nur er hat nach den Regeln das Recht, ein Spiel abzubrechen, wenn aus seiner Sicht eine Fortsetzung nicht mehr möglich oder nicht zu verantworten ist. Aber zum einen wird er in einem zutiefst bedrückenden Fall wie gestern natürlich das Einvernehmen mit den Mannschaften suchen und nicht einfach entscheiden. Zum anderen hat hier de facto die UEFA als Wettbewerbsausrichter der Europameisterschaft das letzte Wort. Deren Offizielle vor Ort treffen letztlich die Entscheidung, ebenfalls in Absprache mit dem Unparteiischen und den Teams.
Der finnische Siegtorschütze Joel Pohjanpalo sagte nach Spielende, Eriksen "wollte, dass wir weiterspielen. Das dänische Team und wir haben diesen Wunsch respektiert." Dänemarks Cheftrainer Kasper Hjulmand erklärte: "Es war besser, zu sagen: Wir bringen es jetzt hinter uns." Was aber wäre passiert, wenn eine Person aus dem Schiedsrichter-Gespann oder auch das gesamte Referee-Team sich außer Stande gesehen hätten, die Partie zu leiten?
Wenn der Schiedsrichter die Spielleitung nicht fortsetzen kann, ersetzt ihn der Vierte Offizielle. Fällt ein Assistent oder der Vierte Offizielle aus, dann springt der Reserve-Assistent ein, den es bei jedem EM-Spiel gibt. Sieht sich das gesamte Gespann außerstande, das Spiel fortzusetzen, dann wird die Partie abgebrochen.
Eriksens Kollaps, Behandlung und Transport ins Krankenhaus stellt eine absolute Ausnahmesituation dar, besonders für seine Mitspieler und sein Trainerteam. Seinem kolportierten Wunsch, die Partie fortzusetzen, haben die Teams entsprochen. Ist es denkbar, dass der Schiedsrichter - oder auch der Veranstalter, hier die UEFA - sich darüber hinwegsetzen, um die Beteiligten vor sich selbst zu schützen?
Das kann ich mir nur schwer vorstellen, ehrlich gesagt, selbst wenn man es prinzipiell für sinnvoll hält. Denn man würde dann gegen den erklärten Willen des betreffenden Spielers und seiner Mannschaft handeln. Woran aber kann man es als Schiedsrichter festmachen, dass die Spieler vor sich selbst geschützt werden müssen? Auf welcher Grundlage würde man ihnen erklären, dass sie zwar weiterspielen wollen, es aber besser für sie ist, wenn sie es nicht tun? Vielleicht wäre es tatsächlich besser gewesen, aber ich halte es trotzdem für schwierig, sich dem ausdrücklichen Wunsch zu widersetzen. Es würde dem Unparteiischen auch eine kaum schulterbare Verantwortung aufbürden.
Ist denn die Vorbereitung auf solche Ausnahmesituationen Teil der Aus- und Fortbildung von Unparteiischen?
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Die Schiedsrichter werden mit den Regularien vertraut gemacht, gleichzeitig wird ihnen gesagt: Zeigt Empathie, sucht das Einvernehmen, sprecht mit den Beteiligten, erörtert mögliche Lösungen. Macht euch bewusst, was für eine psychisch belastende Situation das ist. Dennoch kann man Schiedsrichter auf solche Situationen nur begrenzt vorbereiten, weil sie immer auch eine eigene Dynamik haben und natürlich auch mit den Unparteiischen selbst etwas machen. Klar ist aber auch: Wenn ein Team nicht mehr weiterspielen kann und will, ist das zu respektieren. Wie es danach weitergeht, ist ohnehin nicht Sache des Schiedsrichters.
Wer entscheidet dann? Und gibt es auch ein Szenario für den Fall, dass sich beide Mannschaften gemeinsam auf einen Abbruch verständigt hatten?
Wie es nach einem Spielabbruch weitergeht, entscheiden die zuständigen Instanzen des Wettbewerbsveranstalters. In diesem Fall hätte ein Abbruch laut UEFA-Regularien dazu geführt, dass das Spiel am folgenden Tag fortgesetzt worden wäre. Die Möglichkeit, das Spiel so zu werten, wie es zum Zeitpunkt des Abbruchs stand, ist für einen Fall wie den gestrigen nicht vorgesehen.
Mit Alex Feuerherdt sprach Torben Siemer
Quelle: ntv.de