90 Minuten Achterbahn Emre lebt den türkischen Traum in Dortmund

Die Tribünen in Dortmund waren fest in türkischer Hand.

Die Tribünen in Dortmund waren fest in türkischer Hand.

(Foto: IMAGO/NurPhoto)

Die Europameisterschaft 2024 ist bislang ein extrem stimmungsvolles Turnier. Nach den Albanern und Niederländern feiern auch die türkischen Anhänger zum Auftakt ein Fußball-Fest. Das wilde Spiel gegen EM-Debütant Georgien liefert ein Auf und Ab der Gefühle.

Es beginnt mit einer kalten Dusche. Über Dortmund entlädt sich an diesem Dienstagabend ein Dauerregen, der seinen Namen verdient hat. Mehr Sommerschauer als Sommermärchen - was das Wetter betrifft. Vom Dach vor der Nordtribüne schießt gut eine Stunde vor Anpfiff ein massiver Wasserfall herunter. Die türkischen Anhänger lassen sich davon nicht beirren, besingen sich, ihr Land und feiern schon mal vor. Den Tag über hatten sie in der Ruhrgebietsstadt eine große Party gefeiert und sich dann gemeinsam auf den Weg zum Stadion gemacht.

Auch auf der Osttribüne ist die Stimmung vor dem Anpfiff nicht weniger als großartig. Eine kleine Gruppe türkischer Anhänger nimmt die Plätze ein, heißt: Sie stehen die kommenden zwei Stunden eigentlich durch. Ein junger Mann im türkischen Trikot mit Spielernummer und der Aufschrift Emre stellt sich kurz vor, fragt nach Tipps zum Ausgang des Spiels und packt ein dickes Vorfreude-Grinsen aus, wenn die Antwort: "Die Türkei gewinnt" lautet.

Der Ton ist gesetzt. Und Emre und Co. haben sich in den Fokus gespielt. Man erkennt: ehrliche Liebe zum Spiel. Emre und seine Truppe, dicht besetzte Viererkette, machen sich bereit für die mehr als 90-minütige Regenschlacht im Ruhrpott. Emre ist nicht nur mit Trikot, sondern auch mit Schweißband, Sonnenbrille und Flagge ausgestattet. Er wird sie die gesamte Spielzeit nicht loslassen.

Debütant Georgien wird niedergepfiffen - und lobt die Atmosphäre

Das Zeremonielle beginnt. Die Aufstellung der Georgier wird gnadenlos ausgepfiffen, die türkische zelebriert, wie es nur ein vollgepacktes Stadion kann. Dann ein kritischer Moment. Auch beim Abspielen der georgischen Hymne schallt ein brutales Pfeifkonzert von allen Seiten durchs Stadion. Muss man ertragen können. Georgien-Trainer Willy Sagnol kritisierte das Verhalten nach dem Spiel, lobte aber die Atmosphäre als "fantastisch". Für diese sind auch Emre und Co. verantwortlich - teils sind sie jetzt schon heiser. Die Spannung steigt. Die erste Pyrofackel auf der Südtribüne wird entzündet. Es ist nicht die letzte für heute.

Dann geht sie ab - die wilde Fahrt der Emotionen von 62.000 Zuschauern, für die Emre stellvertretend steht und anhand derer sich auch dieses turbulente Gruppenspiel erzählen lässt. Die Türkei reißt das Spiel sofort an sich, zieht Ballbesitz-Fußball auf. "Türkiye, Türkiye", rufen die Fans, vermutlich sind 70 bis 80 Prozent der Zuschauer im Stadion für die Türkei. Auch auf den Rängen türkische Dominanz zunächst. Die Hände werden gehoben, sie klatschen im Rhythmus gegeneinander. Emre legt seine gebeugten Finger über den Mund, schließt die Augen und gibt eines der vermutlich schönstes "Buuuh" aller Zeiten zum Besten. (Lippen-)Pressing mal anders.

Bei jedem Ballbesitz werden die EM-Debütanten niedergepfiffen, bis die Ohren klingeln. Durchaus ein türkisches Fan-Stilmittel, wie es beispielsweise auch die Bayern in der Champions League gegen Galatasaray erlebten. Jeder eigene Ballbesitz wird gefeiert wie andere ein Tor begrüßen. Laut. Und ja, es fallen auch ein paar nicht jugendfreie Worte. Emre, gefühlter Libero der Fan-Clique, tigert um die Plätze. Stellt sich in den freien Raum an den Treppen und sucht wie unten Mittelfeldmotor Kaan Ayhan die Lücke auf dem nassen Rasen. Er schreit seine Emotionen heraus, animiert die Kollegen. Es ist emotional.

Mitten in die türkische Euphorie hinein fällt der Ausgleich

Es geht um alles, das wird schnell deutlich. Und jeder Fußball-Fan, der sich einem Team verbunden fühlt, versteht: zu Recht. Emre ist jetzt irgendwie auch einer von ihnen, der verlängerte Arm der "Ay-Yildizlilar" auf der Tribüne. Er singt und macht Lärm für die Jungs unten. Er dirigiert - "Hakan jetzt", sagt er und meint Hakan Calhanoglu, den Kapitän und Mittelfeldstrategen, der einst in Karlsruhe, Hamburg und Leverkusen spielte". "Schiiieß" - noch aber ohne Erfolg.

Dann aber: die erste Eskalation. Mert Müldür erzielt per Volley-Abnahme ein Traumtor (25.). Torschrei. Sie liegen sich in den Armen wie unten die türkischen Spieler in ihrer Jubeltraube.

Es beginnen nun harte Minuten. Denn in die Feierei fällt nur Momente später der vermeintliche zweite Treffer, der die Eskalationsstufe weiter anhebt. Doch der Video Assistant Referee greift ein, nimmt das Tor von Kenan Yildiz zurück - minimal Abseits. Von Himmelhochjauchzend zu Tode betrübt. Es ist alles drin, Emre stirbt gefühlt tausend Tode. Er will die Entscheidung nicht verstehen. Aber es geht weiter. Muss weitergehen. Aber aus seiner Sicht in die falsche Richtung. Die frechen Georgier krönen ihre erste lange Ballbesitzphase mit einem Treffer aus dem spitzen Winkel. Giorgi Kochorashvili bedient auf der rechten Seite Georges Mikautadze, der einschiebt - Keeper Mert Günok sieht nicht gut aus.

Der Blick von Emre geht jetzt ungläubig gen Himmel. Kann das jetzt wahr sein? Zeichen setzen jetzt. Und so wie unten Abwehrspieler Abdülkerim Bardakci nach einem taktischen Foul die Gelbe Karte sieht, erhält auch Emre Verwarnungen, gleich zwei an der Zahl. Ordnungsliebende Stewards ermahnen den türkischen Tifoso zu mehr Ordnung im Stehverhalten. Doch Gelb-Rot gibt es hier zum Glück nicht. Stattdessen einen Transfer. Emre wechselt von der Libero-Position in die sichere Innenverteidigung, steht jetzt eng beisammen neben seinen Freunden. Damit's nicht doch noch Gelb-Rot gibt.

Emre leidet mit seiner Mannschaft

Und es bleibt eine wilde Achterbahnfahrt. Zwischen Buh-Rufen, Fast-Torjubel und wilden Gesten auf der Tribüne geht es auch auf dem Rasen fast so wild hin und her. Aber alles friedlich. Die Heat Map glüht auch auf der Osttribüne des Westfalenstadions. Die Fans geben alles. An Sitzen ist hier ohnehin nicht zu denken. Hier wird im Stehen angefeuert. Die türkischen Anhänger beschwören den nächsten Treffer, aber er will nicht fallen.

Dann kurbelt die Türkei die Stimmung weiter an. Arda Güler trifft traumhaft per Schlenzer aus der Distanz (65.), die Fans liegen sich in den Armen, schmeißen sich auf die Sitzschalen, wälzen sich im Adrenalinrausch darüber. Party-Stimmung. Alles muss raus. Dranbleiben. Die Stimmung bleibt euphorisch. Torschütze Güler wird mit Applaus verabschiedet. Emre und Co recken die Arme, klatschen und feiern ihren Helden. Aber dann müssen Nägel gekaut werden.

Das Spiel wankt - und damit auch die Stimmung der Anhänger minütlich, teils sekündlich. Hier die Türkei, die fast erhöht, dann scheitern die Georgier um ihre Superstars Chwitscha Kwarazchelia mehrfach und dramatisch. Einmal hauen sie sich gegenseitig fast um, dann schmeißt sich ein türkischer Defensivspieler gerade noch so dazwischen - oder die Latte rettet. Emre leidet sichtlich mit. Er schiebt sich seine Flagge vors Gesicht. Noch führt die Türkei aber.

Dann erfolgt die Erlösung. Endlich. Der georgische Keeper Giorgi Mamardashvili ist in den letzten Sekunden der siebenminütigen Nachspielzeit mit vorgerückt, sucht den Lucky Punch - aber die Georgier verlieren den Ball und der eingewechselte Kerem Aktürkoglu läuft mit Ball aufs leere Tor zu. Emre schreit und peitscht sie im Chor der Zehntausenden türkischen Fans nach vorne. Aktürkoglu schiebt den Ball rein - die Entscheidung. Er öffnet die Tür zur rauschenden Party. Auf den Rängen gibt es kein Halten mehr. Zu dritt liegen Emre und seine Freunde nun ausgestreckt über die Sitzplätze verteilt. Horizontales Hochjauchzen. Die Sonnenbrille rutscht über die Augen, die Arme gen Regen-Himmel. Die Türkei besiegt Georgien 3:1. Abpfiff.

So sieht pure Fußball-Freude aus. Wieder leuchtet Pyro links und rechts auf. Da liegt Emre noch auf den Sitzschalen. Man muss ihn sich als glücklichen Menschen vorstellen.

Quelle: ntv.de

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