Reisewarnung fürs "Drecksloch" Ausgerechnet Engländer verabscheuen Gelsenkirchen
17.06.2024, 05:03 Uhr
Hömma, herrlich hier!
(Foto: IMAGO/Jochen Tack)
Die englische Fußball-Nationalmannschaft startet gegen Serbien in die Europameisterschaft - am Standort Gelsenkirchen. Die alte Industrie-Metropole kommt aber nicht sonderlich gut an. Etwa bei Sky-Mann Kaveh Solhekol, der bekommt danach ordentlich Lack.
Einfach mal auf tonnenweise Abraum stehen und den Blick schweifen lassen. Auf die Zeche Holland, auf die alte Lohrheide (okay, ist beides Wattenscheid), auf Reihenhaus-Siedlungen in Ückendorf und auf ganz viel Grün. Auf knapp 100 Metern über Normalhöhennull! Ja, das muss man wollen. Aber offenbar will nicht jeder. Engländer zum Beispiel nicht. Dabei fallen sie an diesem Sonntag in Horden in Gelsenkirchen ein. Ihre "Three Lions" sind zu Gast, starten gegen Serbien ins Turnier.
Das Spiel ist schon vor dem Anpfiff um 21 Uhr eines der meist diskutiertesten des Turniers in Deutschland. Eine Invasion von Hooligans droht, die Polizei bereitet einen gigantischen Einsatz vor und greift doch nicht zu ungewöhnlichen Methoden. Der Aufsehen erregende Bericht, dass die Fans lieber kiffen sollen statt zu saufen, ist eine Mär, die die Polizei via Meldung klarstellte.
Die Lage ist aber dennoch so: Kiffen ist hierzulande seit dem 1. April in der Öffentlichkeit ja erlaubt, zwar nur in bestimmten Zone, aber da immerhin legal. Anders als in England. Alkohol trinken dagegen, das ist hier und dort kein Problem. Und in beiden (Fan)-Kulturen gerne genommen. Aber bei der Europameisterschaft zumindest sehr teuer.
In Gelsenkirchen kosten 0,4 Liter in den Fanzonen fünf Euro. Im Stadion sind es noch zwei Euro mehr. Ein wenig außer Acht gelassen wird dabei, dass die Grundversorgung mit "german beer" angesichts der legendären und gut ausgebauten Trinkhallen-Kultur - für Ortsfremde: meist ein Büdchen mit Schiebefenstern und netten Gastgebern - nicht sonderlich schwer zu kompensieren ist. Und doch: Trotz einzigartigem, besteigbarem Abraum und eher günstig einzuschätzenden Preisen an den Trinkhallen verbreitet sich Abscheu gegen den Gastgeber!
"Stadt sieht aus wie ein Drecksloch"
Bei X gingen am Samstag zwei Beiträge viral, die ein mächtiges Echo nach sich zogen. Einmal falsch bei der Ehre gepackt, wächst das in den Farben getrennte, aber im Herzen eben doch vereinte Ruhrgebiet zusammen. Sogar im BVB-Forum schwatzgelb.de, nicht bekannt für besondere Zuneigung zum Standort Gelsenkirchen, und für den prominentesten Verein der Stadt, den FC Schalke 04, wurden stabile Verteidigungsreden formuliert gegen den Angriff des bekannten englischen Sky-Moderators Kaveh Solhekol. Der hatte sich die alte Industriemetropole (gesprochen: Gelsenkörken) wortreich vorgeknöpft. Bis zum Sonntagvormittag wurde der Post auf X gelöscht.
Solhekol war immerhin stilvoller als der Vlogger Paul Brown, der nach seiner Ankunft am Hauptbahnhof via Social Media direkt mal losposaunt hatte, dass die Stadt aussieht wie ein "Drecksloch". Shithole hatte er das in seiner Muttersprache genannt. Er stellte ein Video vom verregneten Bahnhofsvorplatz bei. Eher selten die Prachtmeile oder das schönste Einfallstor einer Stadt. Aber ja, in Gelsenkirchen ist der Platz durchaus noch ein bisschen trostloser als anderswo. Fassungslos sei er, dass Deutschland in dieser Stadt ein Spiel der Europameisterschaft ausrichtet!
Beide hatten, so ehrlich muss man sein, tatsächlich einen Kulturschock erlitten. Denn beide kamen am Samstag aus München, vom Eröffnungsspiel des Turniers, von der großen DFB-Party gegen die zuvor feiernden und nach dem Spiel eher weinenden Schotten. Aber ist das ein Grund, alles in Grund und Boden zu richten? Ausgerechnet als Engländer, deren Städte ja nun auch regelmäßig in den Hitlisten der hässlichsten in Europa oder sogar der Welt auftauchen. Crap Towns sind etwa Hull, oder Luton. Oder auch Manchester. Eigentlich müsste hier doch ein Band der Liebe entstehen, über den Fußball, gegen das gängige Schönheitsideal. Ein User pöbelt Brown direkt entgegen: "Sieht beschissen, regnerisch und grau aus. Sollten sich Engländer nicht wie zu Hause fühlen?"
"Gelsenkirchen ist ein ziemlicher Kontrast"
Ja, Gelsenkirchen ist nicht München. Und Gelsenkirchen ist nicht London. Hier gibt es keinen Englischen Garten und keinen Hyde Park, dafür den Nordsternpark und den Revierpark Nienhausen. Es gibt keinen Big Ben und es gibt keinen Olympiaturm. Dafür die Probsteikirche St. Urbanus und Halden! Und die Bolzplätze, auf denen Olaf Thon und İlkay Gündoğan zu großen Meistern ihres Fachs wurden, wie bei schwatzgelb.de erwähnt wurde.
Und trotzdem kamen Brown und Solhekol nicht klar, in ihrer neuen Umgebung. "Ich muss ein bisschen vorsichtig sein, was ich sage. Weil ich nicht die netten Menschen aus Gelsenkirchen beleidigen möchte", stieg der Sky-Mann ein. "Wir haben gerade vier, fünf Tage in München verbracht, das eine wunderbare Stadt ist", sagte er weiter und befand: "Gelsenkirchen ist ein ziemlicher Kontrast." Hier, wo einst das deutsche Wirtschaftswunder sein Fundament hatte, wo schwarzes Gold (Anmerk. d. Red.: Kohle) nach oben geholt und Stahl produziert wurde, sei "das alles vergangen", klagte er. "Und es ist auch sonst nicht wirklich viel übriggeblieben in Gelsenkirchen." Ein Affront, ein Frontalangriff!
"Auch nicht mit American Express!"
Gelsenkirchen, das ist nämlich auch Kultur. Fußball-Kultur. Zu erleben auf der Kurt-Schumacher-Straße. Die große Straße verbindet die Ortsteile Altstadt, Schalke, Schalke-Nord, Beckhausen, Erle und Buer und ist die längste im Stadtgebiet. Sie führt an der Glückauf-Kampfbahn vorbei, ist dort längst die Schalker Meile. Die Straße atmet den alten Geist der Metropole, des Vereins. Das Klublokal der Königsblauen findet sich hier und auch das ehemalige Geschäft von Ernst Kuzorra, das er bis 1974 betrieb und anschließend Reinhard Libuda übernahm. Es ist eine raue Charmanz, die durch diese Stadt weht. Ehrlich, herzlich, architektonisch oft anders schön. Ja, für die Arena und Schalke 04 sei Gelsenkirchen natürlich bekannt, "aber abgesehen davon, gibt es wirklich nicht viel zu tun", findet Solhekol. Restaurants, Bars - davon gebe es nicht viele in Gelsenkirchen.
Und in seinem ganz großen Frust über den zugeteilten Arbeitsort für dieses Wochenende spricht er noch eine Reisewarnung an die Fans aus England aus. Fassungslos berichtet er davon, dass er weder mit Visa- noch mit Mastercard bezahlen konnte. Und, jetzt Obacht, "auch nicht mit American Express!" Aber als Typ "oldfashioned", altmodisch (wie passend zur Stadt eigentlich?!) habe er natürlich Bargeld dabei gehabt. Das ging dann klar! Sind ja keine Unmenschen! Diesen Ritterschlag hatte er direkt zu Beginn seiner Übertragung bereits getätigt.
"Ten German Bombers" in Düsseldorf
Brown machte sich noch am Nachmittag wech aus Gelsenkirchen, reiste nach Düsseldorf. Auf der Suche nach Fans, die trinken, die er weder in Gelsenkirchen noch im nahen Essen fand. In der Altstadt von Düsseldorf traf er sie und feierte mit Bratwurst, Bier. Die Fans sangen den alten Schlachtgesang "Ten German Bombers", ein Lied, das von der UEFA als diskriminierend kritisiert wird. Menschen, die das skandieren, droht der Ausschluss von Veranstaltungen. Zurück in Gelsenkirchen, kurz vor Mitternacht, Brown findet einen Pub mit Fans. Sperrstunde? Hat der Wirt nicht angedacht. Vielleicht ist die Stadt doch nicht so verabscheuungswürdig?
Am Morgen danach dann Fußball. Und die Hoffnung, dass es keine Hooligan-Invasion gibt, keine Krawalle. Laut Peter Both, Leitender Polizeidirektor, gibt es bislang keine konkreten Erkenntnisse über die Anreise von gewaltbereiten Gruppierungen aus England und Serbien. "Die Fanszene hat sich seit der letzten EM 2016 in einem Land stark weiter entwickelt. Es ist schwer für uns, das zu prognostizieren. Deshalb bauen wir lieber ein paar Sicherheitsvorkehrungen mehr ein", sagte Both. 20.000 Engländer werden in der Fußballarena erwartet. Ähnlich viele Fans der "Three Lions" könnten zudem beim Public Viewing an der Trabrennbahn vor Ort sein. Fernab der Halde Rheinelbe, ganz nah am Revierpark Nienhausen. Schön dort, wirklich.
Quelle: ntv.de