Lionesses erlösen eine Nation England verzeiht EM-Heldinnen sogar royalen Übergriff
01.08.2022, 08:17 Uhr Artikel anhören
Und wieder ist Wembley der Schicksalsort: Für Deutschland, das erneut ein Finale verliert. Für England, das den Fußball nach 56 titellosen Jahren endlich wieder nach Hause holt. Die Party ist gigantisch. Der Bruch des königlichen Protokolls wird zur Nebensache.
An diesem Sonntagabend war alles erlaubt. Oder, präziser, es wurde alles toleriert. England feiert "Football is coming home" und ignoriert im Rausch der Glückseligkeit gar das königliche Protokoll. Bei der Ehrung für die neuen Heldinnen der erlösten Nation umarmt Lionesses-Kapitänin Leah Williamson tatsächlich Prinz William! Das geht eigentlich nicht. Denn der künftige König ist unantastbar. Nun darf man Leah Williamson aber vom dringenden Tatverdacht freisprechen, sich hier vorsätzlich einen royalen Übergriff erlaubt zu haben. Der Prinz, eher ein Mann des Volkes, ließ sich nämlich gerne herzen. Vielleicht wollte er gar? Auch er genoss die Befreiung von der schweren Last der Titellosigkeit.
In Wembley, ausgerechnet in diesem historisch so beladenen Fußball-Tempel, brachen die Löwinnen den Bann. 56 Jahre nach Geoff Hurst und dem immer noch umstrittensten Tor der Fußballgeschichte (dicht gefolgt von Thomas Helmers Phantomtreffer gegen den 1. FC Nürnberg) feiert England wieder einen großen Titel. Nach 120 brutal intensiven Minuten bebte das Stadion, bebten die Spielerinnen, bebte eine Nation. Und ein kleines bisschen bebte auch das deutsche Team.
Denn wieder einmal war es in Wembley zu einem Aufreger gekommen, historische Dimensionen wird er indes nicht erreichen. Nach 25 Minuten hatte Williamson den Ball an den ausgestreckten Arm bekommen und so ein Tor für Deutschland verhindert. Die Schiedsrichterin hatte das übersehen, der VAR keine klare Fehlentscheidung erkannt. Anders als die Bundestrainerin. Die ärgerte sich. Sehr sogar. Gratulierte dann aber fair.
Nein, schön war das Finale nicht
Was war das für ein Spiel gewesen? Zweikampf reihte sich an Zweikampf. Statt Dribblings fast nur Duelle. Statt Pass-Stafetten viele Provokationen. Vor allem in den letzten Minuten. Die Engländerinnen tummelten sich auf ihrer rechten Angriffsseite. Ganz nah an der Außenlinie. Einen Einwurf nach dem anderen holten sie heraus. Und nutzten dabei jede Gelegenheit, um der tickenden Uhr möglichst viele Sekunden zu rauben. Schön war das nicht. Unfair aber auch nicht. Clever trifft es wohl am besten. Zermürbend ebenfalls. Dann der Abpfiff, die Erlösung. Zusammengefasst in den englischen Medien: "Die Löwinnen besiegeln mit einem historischen Sieg 56 Jahre voller Schmerzen. Der tiefste Schmerz der englischen Sportpsyche ist beseitigt", feiert der "Telegraph". Der "Daily Mail" staunte derweil und kniff mit seiner Überschrift eine ganze Nation: "Es war kein Traum...wir HABEN Deutschland in einem Finale besiegt!"
Deutschlands Heldinnen, die erst die Hiobsbotschaft von Alexandra Popps Ausfall verkraften mussten und zur Verlängerung auch noch ihre Torschützin und unermüdliche Antreiberin Lina Magull verloren (angeschlagen ausgewechselt), sanken auf den Boden. Sie weinten. Wie die Engländerinnen. In Wembley vermischten sich die Tränen der Enttäuschung mit den Tränen des Glücks. Nur ein Jahr, nachdem die Männer an diesem Ort im EM-Finale Italien auf dramatische Weise unterlegen waren, zogen die Lionesses die Geschichte nun auf ihre Seite.
Und sie vergaßen alles. Nicht nur den Respekt vor dem königlichen Protokoll. Sie vergaßen das Leiden auf dem Rasen, sie vergaßen das ihre Topspielerinnen Beat Mead, Georgia Stanway, Ellen White oder auch Francesca Kirby kaum bis nicht zur Entfaltung kamen. Das bewunderte Tempospiel, ein nur noch verzwergtes Element. Und nach einer starken ersten Halbzeit waren die Löwinnen alles, nur nicht mehr bissig. Gegen das nun aggressive DFB-Pressing fand die Mannschaft von Trainerin Sarina Wiegman keine guten Lösungen mehr. Und je länger das Spiel dauerte, je mutiger die Deutschen wurden, die indes eine Zielspielerin wie Popp über allen Maßen vermissten, desto mehr schlich sich die Angst in die Knochen der Löwinnen, erneut titellos vom Platz zu schleichen. Fast jedes Zuspiel wackelte wie ein Lämmerschwanz. Aber dem DFB-Team fehlte die Präzision, um diese Nervosität und Kraftlosigkeit der Gegnerinnen gewinnbringend für sich zu nutzen.
Wembleys letzter Kraftakt
So wankte das Spiel hin und her. Immer wieder unterbrochen durch krachende Körper in hitzigen Duellen. Einen kühlen Kopf hatte hier niemand mehr. Auch nicht die ukrainische Schiedsrichterin, deren Linie auf beiden Seiten zwischen großzügig und kleinlich changierte. Ohne erkennbaren Plan. Nein, ein hochklassiges Finale war es nur es selten. Ein spannendes immer. Und so entschied auch kein Schmankerl das Finale, sondern eine Wuchtaktion. Chloe Kelly, das eingewechselte Energiebündel, pushte das Stadion mit wedelnden Armen in der 110. Minute zur maximalen Lautstärke. Eine Kraftwelle, die von Rängen aufs Feld waberte. Nach einer Ecke blockte sich Kelly rustikal den Weg frei und stocherte den Ball mit der Pike irgendwie über die Linie. Ekstase pur.
Zehn Minuten noch bis zur Erlösung. Zehn Minuten bis zur Unsterblichkeit. Zehn Minuten bis zu Gordon Banks, bis zu Bobby Moore, bis zu Nobby Stiles, bis zu Alan Ball, bis zu Bobby Charlton und Geoff Hurst. Wembley war eine elektrisierende Mischung aus Euphorie und Angst. Jeder Einwurf gefeiert. Jeder deutsche Ballkontakt ein Gezittere. Dann "Sweet Caroline". Der Song des Glücks.
Was für eine emotionale Vereinigung der Mannschaft mit der Nation, vertreten durch zehntausende Fans im mystischen Tempel der Fußballgeschichte. Und als Trainerin Wiegman im Bauch des Stahlriesen emotional wurde, ihrer toten Schwester gedachte, stürmten ihre Spielerinnen die Pressekonferenz. Sie stürmten das Podium und den Tresen. "Football is coming home". Nein, "Football is at home".
Quelle: ntv.de, tno