Experte zu Türkei-Eklat bei EM "Der Wolfsgruß steht wie der Hitlergruß für Gewalt"

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Der türkische Fußball-Nationalspieler Merih Demiral sorgt im EM-Achtelfinale für einen Eklat, als er mit dem Wolfsgruß jubelt. Nahost-Experte Kamal Sido von der "Gesellschaft für bedrohte Völker" erklärt im Interview mit ntv.de, warum die Geste gefährlich ist, weshalb Demiral wahrscheinlich ohne Strafe davonkommt - und welche Bedrohung die Grauen Wölfen auch für Deutschland bedeuten.

ntv.de: Herr Sido, am Dienstagabend jubelte der türkische Fußball-Nationalspieler Merih Demiral nach dem Sieg im EM-Achtelfinale gegen Österreich mit dem sogenannten Wolfsgruß. Auch Fans zeigten die Geste bei Türkei-Spielen. Warum ist das problematisch?

Kamal Sido: Bei diesem Gruß handelt es sich um eine Geste einer ultra-nationalistischen Bewegung, der sogenannten Grauen Wölfe. Sie stehen für eine rassistische, faschistische und antisemitische Ideologie. Die Grauen Wölfe glauben, dass die Türken bessere Menschen als alle anderen sind. Übermenschen. Vermeintlicher Gegner des Türkentums wie Aleviten, Armenier, Juden, Griechen oder Kurden sind die Zielscheibe.

Die Grauen Wölfe sind eine der größten rechtsextremen Gruppen in Deutschland. Was wollen sie?

Die offizielle Politik der Bewegung ist die Errichtung eines großtürkischen Reiches, von China bis nach Wien sogar. Dieses Großreich würde Vertreibung und Völkermord an Armeniern, Kurden oder Griechen bedeuten. Die Ideologie der Grauen Wölfe ist ähnlich wie die des Islamischen Staates oder des Deutschen Reichs der Nationalsozialisten - ohne etwas gleichsetzen zu wollen. Aber hier geht es um Glaubwürdigkeit: Wenn man den Kindern und Jugendlichen in Deutschland erklärt, warum die Nazis schlecht waren, dann muss man mit türkischen Nationalisten, Rechtsextremisten und Islamisten genauso umgehen.

Trotzdem sind die Rechtsextremen in der Türkei längst etabliert und seit 2018 mit ihrem politischen Arm, die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), offiziell Teil der Regierung an der Seite von Recep Tayyip Erdoğans AKP.

Richtig, deshalb passiert auch so wenig gegen die Grauen Wölfe. Sie sind offiziell ein Teil der NATO. Demzufolge ist es auch sehr gefährlich, Kritik zu äußern. Ich bekomme jeden Tag Morddrohungen. Aber wir von der "Gesellschaft für bedrohte Völker" sind die Stimme von denen, die keine haben. Wir kritisieren, um aufzuklären.

Irgendwann vermischte sich der türkische Nationalismus mit dem Islamismus, schon bevor Erdoğan Präsident wurde. Die Gruppe war immer gewalttätig.

Gegen wen richtet sich die Gewalt?

Erst waren die Armenier dran, dann die Juden, dann die Kurden. Die Grauen Wölfe waren in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder an Massakern, Pogromen und Angriffen auf nicht-türkische und nicht-muslimisch-sunnitische Volksgruppen und Minderheiten beteiligt. In der Türkei und außerhalb der Türkei.

Zum Beispiel?

1993 beim Massaker in der zentralanatolischen Stadt Sivas sind 33 Aleviten - eine religiöse Minderheit in der mehrheitlich sunnitischen Türkei - bei lebendigem Leib verbrannt worden. Dabei haben die Attentäter den Wolfsgruß gezeigt. Das war gestern vor genau 30 Jahren. Dass Demiral am Jahrestag dieses Massakers den Wolfsgruß zeigt, ist ein absoluter Skandal.

Ebenso wurde der Gruß 2007 beim Mord am türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, der um die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern kämpft, von den Tätern und ihren Unterstützern und Sympathisanten gezeigt. Die Bewegung der Grauen Wölfe leugnet den Völkermord an den Armeniern von 1915 bis 1923.

Warum werden bei der Geste Zeigefinger und kleiner Finger wie Ohren aufgestellt und die anderen Finger zu einer Art Schnauze auf den Daumen gepresst?

Der Wolfsgruß an sich geht wahrscheinlich auf Legenden über die Bildung der türkischen Nation zurück, wo ein Wolf eine Rolle gespielt haben soll. Aber dieser Gruß ist missbraucht und instrumentalisiert worden. Genauso wie andere menschenfeindliche Symbole, unter denen Menschen massenweise ermordet worden sind, wie etwa das Hakenkreuz. Da muss man Nachsicht und Mitgefühl mit den Opfern zeigen und darf solche Gesten und Symbole nicht verwenden. Vor allem nicht im Fußball und live im TV.

Wem und wie schadet die Geste von Fußballprofi Demiral im Stadion besonders?

Zunächst einmal den Opfern der Grauen Wölfe. Etwa den Aleviten in der Türkei, die sich dadurch beleidigt fühlen und Assoziationen an Pogrome und Völkermord haben. Das sind etwa 20 Millionen Menschen, türkische Staatsbürger. Aber er schadet auch den vielen Menschen in der Türkei, die ein ganz normales Leben führen wollen. Außerdem den Fußballfans, der Nationalmannschaft der Türkei und dem Fußball im Allgemeinen. Beim Fußball geht es um Völkerverständigung und nicht um Hass und Krieg.

Demiral sagte, seine Art des Jubels habe einfach etwas mit seiner "türkischen Identität zu tun" und es gebe "keine versteckte Botschaft".

Dafür habe ich null Verständnis. Das stimmt schlichtweg nicht. Jeder in der Türkei, selbst ein Analphabet, weiß, um welche Bewegung es sich handelt. Das Ganze ist so ein großes Thema im Land, Demiral weiß genau, worum es geht. Sonst müsste man auch AfD-Politikern vor Gericht glauben, wenn sie sagen, dass sie nicht wüssten, was SA-Parolen sind.

Ist jeder Verwender dieses Grußes ein türkischer Rechtsextremist?

Ja. Der Wolfsgruß steht wie der Hitlergruß für Gewalt - ohne den Holocaust irgendwie relativieren zu wollen. Würde Demiral den Völkermord an den Armeniern verurteilen und die Rechte der Kurden anerkennen, dann hätte er den Gruß gar nicht erst gezeigt.

Der Verfassungsschutzverbund geht in Deutschland von etwa 12.100 Personen aus, die den Grauen Wölfen und ihrer Ideologie zuzuordnen sind.

Das ist der Kern der Bewegung, aber es sind deutlich mehr. Die Grauen Wölfe sind eine Bedrohung für das Zusammenleben in Deutschland, denn die vielen Aleviten, Armenier, Kurden und Griechen hier im Land können sich mit ihnen nicht sicher fühlen.

Schon 2020 hat der Deutsche Bundestag ein Verbot gefordert.

Ich bin gegen Verbote. Wir müssen viel über dieses Thema reden, um die Jugend in Deutschland und der Türkei aufzuklären. Es geht außerdem um Nachsicht, dass man versteht, worum es geht und was dahinter steckt. Aber man darf die Gruppe nicht unterstützen oder finanzieren. Es wäre viel getan, wenn das Innenministerium Vereine mit Verbindungen zu den Grauen Wölfen nicht finanziert und sich kritisch äußert und aufklärt.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser reagierte empört auf den Wolfsgruß und sagte: "Die Symbole türkischer Rechtsextremisten haben in unseren Stadien nichts zu suchen. Die Fußball-Europameisterschaft als Plattform für Rassismus zu nutzen, ist völlig inakzeptabel."

Das klingt schön, aber ich gebe nicht viel darauf. Denn leider koordiniert Frau Faeser auch viele Dinge mit dem türkischen Innenministerium und lässt die Rechte der Kurden dabei außer Acht. Und das deutsche Außenministerium schweigt zu Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der Türkei, etwa in meiner Heimat Afrin.

Die UEFA hat ein Untersuchungsverfahren gegen Demiral wegen unangemessenem Verhalten eingeleitet. Rechnen Sie mit einer Strafe?

Das ist ein guter Schritt, aber ich habe keine große Hoffnung, dass etwas passiert.

Der albanische Nationalspieler Mirlind Daku war in der Vorrunde von der UEFA für zwei Spiele gesperrt worden wegen nationalistischer Gesänge, in denen er über ein Megafon "Tötet die Serben, tötet die Mazedonier" gerufen haben soll.

Aber da muss man unterscheiden. Hier spielt Geopolitik eine Rolle, die Türkei nutzt die geografische Lage des Landes aus und hat wichtige Verbündete in den obersten Etagen in Sport und Politik.

Erwarten Sie eine Reaktion der türkischen Nationalmannschaft?

Momentan nicht. Aber wenn die Medien viel berichten, mehr Aufklärung stattfindet und die Politik in Deutschland in einen offenen und ehrlichen Dialog tritt, nicht mit dieser mitteleuropäisch-deutschen Höflichkeit, könnte es langfristig eine Änderung geben.

Im vergangenen Jahr erschien ein Foto online, das den ehemaligen deutschen Nationalspieler Mesut Özil mit einem Tattoo der Grauen Wölfe auf der Brust zeigte.

Özil könnte ein Vorbild für die Jugendlichen sein, wenn er sich für Völkerverständigung einsetzte. Aber dafür müsste er sich anders verhalten. Özil hat nie etwas zu dem Foto gesagt oder sich entschuldigt, also muss man davon ausgehen, dass er zu den Grauen Wölfen gehört.

Hat Sie das Foto überrascht?

Nein, überhaupt nicht, schließlich ist Özil gut mit Erdoğan befreundet. Ich bin der Meinung, dass die Ideologie der Grauen Wölfe tief im türkischen Staat verankert ist. In der Türkei findet kaum Aufklärung und Aufarbeitung statt.

Einige Deutsch-Türken stehen nun vor dem Ambivalenz-Dilemma, dass sie einerseits mit der türkischen Nationalmannschaft feiern wollen, andererseits keine Rechtsextremen unterstützen wollen.

Sie sollen feiern und singen. Von mir aus auch die Nationalhymne, die ebenfalls nicht unproblematisch ist. Aber wer in Deutschland Verständnis für die Grauen Wölfe zeigt und gleichzeitig etwa die AfD kritisiert, der verliert seine Glaubwürdigkeit.

Mit Kamal Sido sprach David Bedürftig

Quelle: ntv.de

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