Besonderer Spieler wird vermisst DFB-Analyse mit Lienen: "Die Leute warten auf mich, Autokorso!"

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft arbeitet weiter am Fußball-Sommermärchen 2024. Der zweite Schritt ist gemacht, gegen Ungarn gibt es eine höchst seriöse Leistung, aber nur wenig zum Zungeschnalzen. Anders als noch beim Auftaktspiel gegen Schottland. Ntv.de-Experte Ewald Lienen ist zufrieden mit den "Jungs", will zum Autokorso und schwärmt eigentlich für eine ganz andere Mannschaft.

Hallo Herr Lienen, wie geht's?

Herr Lienen: Gut, lassen Sie uns losgehen, die Leute warten schon auf mich.

Wo sind Sie denn?

Ich muss zum Autokorso!

Oh, dann können wir ja mit der verbotenen Frage anfangen: War das titelreif heute von der DFB-Elf? Oder war das vor allem langweilig?

Weder das Eine noch das Andere. Um so ein Spiel wirklich zu bewerten, brauchst du immer zwei Mannschaften. Also auch einen Gegner, der entweder mitspielen will oder wenigstens mit aller Leidenschaft auftritt. Das war ja beides nicht der Fall. Die Ungarn haben sich doch sehr zurückgehalten. Das ist kein Vergleich mehr mit dem Team bei der letzten EM. Da war viel mehr Druck nach vorne und ein viel aggressiveres Abwehrverhalten. Die waren zwar auch heute gut organisiert, aber das ja kein leidenschaftlicher Kampf, der die deutsche Mannschaft gefordert hat.

Was können wir denn dann aus diesem Spiel mitnehmen?

Also erstmal brauchen wir nicht über Manuel Neuer zu diskutieren. Bei der Szene, wo er am Ende den Ball fallen lässt, ist es ja eher Foul vom Gegner als alles andere. Und er hatte zuvor ein paar sehr gute Momente. Ansonsten steht unsere Abwehr sehr souverän, hatte allerdings im Turnier auch noch keine wirkliche Prüfung. Bei der Flanke von Roland Sallai hatten sie etwas Glück, dass Roland Varga kein Weltklasse-Kopfballspieler ist. Sie haben bis auf zwei, drei Chancen kaum was zugelassen. Die gefährliche Szene direkt am Anfang ist eher ein Konzentrationsfehler als ein vom Gegner herausgespieltes Problem. Was mir wirklich gut gefällt, ist, wie die Jungs zurückgearbeitet haben. Vor allem Florian Wirtz mit seinen Sprints über 60, 70 Meter in der ersten Halbzeit. So muss man das machen, wenn man erfolgreich sein will. Du musst mit mindestens der gleichen Leidenschaft nach hinten spielen wie nach vorne. Die Jungs haben viele Szenen der Ungarn direkt im Ansatz erstickt. Und wenn der Erste oder Zweite den Ball nicht gewonnen hat, war ein Dritter, oder ein Vierter da. Das war wirklich gut.

Kommen wir kurz zu einem Ihrer Lieblingsthemen: Hat heute ein Außenstürmer gefehlt?

Nein, nicht unbedingt. Ein schneller Außenstürmer braucht für seine Tiefenläufe ja auch Raum. Den hast du gegen so einen Gegner ja nicht. Was mir dann eher fehlt, ist ein zweiter oder dritter Mann, der im Dribbling den Unterschied machen kann. Wenn der Gegner so weit hinten steht, musst du über Dribblings was reißen und nicht über Steilpässe. Oder eben über kurze, schnelle Steilpässe. Das machen wir ein bisschen zu wenig. Und mir ist der Kommentar im TV, bei allem Respekt, auch ein bisschen zu schön, für das, was ich da sehe!

Wie meinen Sie das?

Ich vergleiche das mit den Spielen der vergangenen Tage. Mit den Leistungen von Mannschaften wie Georgien, Albanien, den Österreichern oder auch den Türken. Für die ist so ein Turnier eine ganze andere Herausforderung als für die Top-Nationen. Diese etwas kleineren Nationen spielen das mit einer unglaublichen Leidenschaft, mit letzter Konsequenz. Türkei gegen Georgien, das Spiel war für mich eine Botschaft, wie Fußball eben auch sein kann. Die Deutschen haben sich heute mit der Leistung in die Reihe der anderen Top-Nationen eingereiht, die noch nicht geglänzt haben. Aber von denen kann man vielleicht auch nicht unbedingt so ein Spiel wie das am Dienstag in Dortmund erwarten.

Warum nicht? Es stehen doch in Summe die besseren Einzelspieler auf dem Platz?

Ja, aber diese Spieler stehen das ganze Jahr unter einem großen Erfolgsdruck. Da kannst du einfach nicht erwarten, dass sie diesen Hunger haben, wie diese Nationen, für die die EM das größte Ding ist. Und in den Spielen David gegen Goliath, hast du als Spieler natürlich auch viel weniger Raum.

Liegt der routinierte Fußball womöglich auch daran, dass Nationen wie Deutschland, Frankreich oder England viel mehr zu verlieren haben als etwa Georgien?

Dass die großen Teams kontrollierter an die Spiele herangehen, liegt natürlich auch an der anderen Erwartung. Von Georgien oder Albanien erwartet ja niemand, dass sie Europameister werden oder ins Halbfinale kommen. Die haben wirklich nichts zu verlieren. Deswegen macht das ja auch so einen großen Spaß, denen zuzusehen. Ein Spiel wie gestern habe ich zuletzt bei Bayer Leverkusen gegen VfB Stuttgart oder Liverpool gegen Arsenal gesehen. Das war auf höchstem Niveau mit letzter Konsequenz, fair und ehrlich. Ich war wirklich schweißnass nach dem Spiel. Du dachtest die ganze Zeit nur: was für ein Wahnsinn. Heute war ich dagegen sehr entspannt.

Für erhöhten Puls gab es ja nun auch wirklich keinen Anlass ...

Absolut nicht! Ich verfolge die Spiele natürlich immer konzentriert, damit die Jungs auch keinen Blödsinn machen. Aber für Sorgen gab es heute keinen Anlass. Da war nichts zum Nägelkauen dabei. Die sind gut nach vorne gekommen, machen das Tor. Die Sache war schnell klar, die Kräfte deutlich verteilt.

Jamal Musiala hat ein schönes Tor geschossen. Hat er heute Ihren heißen Tipp berücksichtigt und seine Kraft an den richtigen Stellen eingesetzt?

Deutschland - Ungarn 2:0 (1:0)

Tore: 1:0 Musiala (22.), 2:0 Gündogan (67.)

Deutschland: Neuer - Kimmich, Rüdiger, Tah, Mittelstädt - Andrich (72. Can), Kroos - Musiala (72. Führich), Gündogan (84. Undav), Wirtz (58. Sane) - Havertz (58. Füllkrug; Trainer:: Nagelsmann

Ungarn: Gulacsi - Fiola, Orban, Dardai - Bolla (75. Adam), Adam Nagy (64. Kleinheisler), Schäfer, Kerkez (75. Zsolt) Nagy - Szoboszlai, Sallai (87. Csoboth) - Varga (87. Gazdag); Trainer:: Rossi

Schiedsrichter: Danny Makkelie (Niederlande)

Gelbe Karten: Rüdiger, Mittelstädt - Varga, Szoboszlai

Er hat es besser gemacht als gegen Schottland. Hat weniger im Mittelfeld gedribbelt, aber er kann noch ein bisschen mehr im Strafraum machen. Ich bleibe dabei. Im Mittelfeld sieht ein Dribbling vielleicht gut aus, aber du verhinderst damit nur den Ballverlust, wenn du vorbeikommst. Das Risiko, überall zu dribbeln, ist unnötig. Aber wenn Sie mich an meiner Fundamentalkritik mit fehlendem Außenstürmer und unsinnigen Dribblings unbedingt festnageln wollen: Wir haben zu wenig Spieler auf dem Platz, die individuell einen Gegner ausspielen können. Wenn ein Wirtz das macht, wird das fünfmal wiederholt. Aber er ist nicht der Spieler, der einem anderen wegläuft, wie eben Musiala oder Leroy Sané. Er löst das alles spielerisch. Und das ist unsere große Qualität, die haben wir auch beim zweiten Tor gesehen. Toni Kroos, der einfach unglaublich ist, spielt den Ball wieder genau dorthin, wo er hin muss. Dann leitet Musiala auf Maxi Mittelstädt weiter, der ja auch nicht der Typ ist, der alle ausspielt. Er läuft super ein, orientiert sich und spielt den richtigen Rückpass auf İlkay Gündoğan.

Und jetzt kommt noch ein großes Aber?

Nein, aber es werden Spiele kommen, wo du eher Fußballer brauchst, die Dinge im Eins-gegen-eins lösen. Und wenn du die nicht hast, musst du es eben auf engstem Raum lösen. So wie beim ersten Tor. Du kannst auf diese Art erfolgreich sein. Aber ich würde mir eben doch mehr Unterschiedsspieler wünschen.

Also Sané mehr und länger spielen lassen?

Aktuell ist es die richtige Entscheidung, Sané von der Bank zu bringen. Mit dem Handicap der Verletzung ist er nicht in Topform. Ihn zu bringen und sich finden zu lassen, das macht Julian Nagelsmann genau richtig. Bleibt halt noch Chris Führich, der das heute auch ein-, zweimal gut gemacht hat. Sonst haben wir ja auch keinen. Serge Gnabry ist nicht dabei, Kingsley Coman ist Franzose. Apropos, die Franzosen, da spielt Kylian Mbappé im Zentrum. Das mag ich ja nicht. Aber das ist die Entscheidung von Didier Deschamps, der setzt voll auf Erfolg, nur auf Sieg, nicht auf Glänzen. Aber das ist irgendwo auch nicht schön.

Aber halt erfolgreich, wie Sie sagen.

Gehen wir nochmal zurück zu Georgien. Gerade weil solche Mannschaften anders spielen, ist es doch schön, dass sie durch Erweiterung der EM und der Nations League dabei sein können. Wenn du immer die gleichen Mannschaften dabeihast, gibt es solche leidenschaftlichen Auseinandersetzungen nicht. Das einzige Spiel der Großen, das anders war, war Spanien gegen Kroatien. Wobei die Kroaten auch bewiesen haben, dass sie in der alten Formation nicht mehr wettbewerbsfähig sind.

Aber gerade die Mannschaften, die vom Grundpotenzial vielleicht nicht zu diesem Turnier gehören, sind halt die Bereicherung. Also die Georgier, was das für gute Fußballer sind, wie die sich gepusht haben, da bekomme ich immer noch Gänsehaut, wenn ich darüber rede. Ohne taktische Fesseln und mit dem Willen ehrlich zu gewinnen, haben die gespielt. Da hält sich keiner das Gesicht, wenn er am Fuß berührt wurde. Das muss übrigens wirklich mal raus aus dem Fußball, dann haben wir wieder ein ganz anderes Erlebnis.

Dazu hat auch der Schiedsrichter mit seiner robusten, klaren Linie beigetragen.

Ja, der hat mir super gefallen. Und ich weiß nicht, ob Sie das nach dem Spiel gesehen haben, Herr Nordmann, aber da war der Schiedsrichter richtig beseelt.

Herr Lienen, wir sprechen seit über 20 Minuten und nur die Hälfte davon über das DFB-Team. Bedeutet das: Spiel nach Hause gebracht. Punkt, Ende, Aus?

Genau so und nicht mehr. Das zweite Tor fand ich wirklich klasse. Die Herausforderungen für Deutschland werden aber noch kommen und ich bin sehr gespannt drauf, wie sie sich dann zeigen. Aktuell bin ich zufrieden, wie sie auftreten. Wenn die starken Gegner kommen, dann musst du deine Qualität beweisen. Das Spiel gegen Ungarn hat das nicht hergegeben.

Bedeutet also, dass wir über die wahre Stärke des DFB-Teams noch nichts Belastbares sagen können?

Nein, das war heute eine saubere, seriöse Leistung. Ohne in Not zu geraten. Aber bislang kann man ohnehin noch nicht viel sagen. Auch einige andere Top-Nationen haben noch keine starken Gegner gehabt. Bei England frage ich mich, ob sie überhaupt schon mitgespielt haben. Und Portugal hat sich gegen die Tschechen mit Glück, Pardon, beschissen. Die Tschechen übrigens habe ich fußballerisch noch nie so schwach gesehen. Die haben sich offenbar an unserem Nachwuchssystem der letzten zehn Jahre orientiert! Die Franzosen gewinnen gegen Österreich durch ein Tor, dass so nicht gefallen wäre, hätte der Schiedsrichter die Fehlentscheidung bei der Ecke nicht gegeben (Anmerk. d. Red.: Österreich wurde eine klare Ecke nach einer Superchance verweigert). Und die Belgier verlieren gegen die Slowakei. Aus deutscher Sicht ist alles in der Reihe.

Vielen Dank und viel Spaß beim Autokorso!

Mit Ewald Lienen sprach Tobias Nordmann

Quelle: ntv.de

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