Denkwürdiger EM-Abschluss Julian Nagelsmann kommen noch einmal die Tränen

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Das war's für Bundestrainer Julian Nagelsmann für diese Heim-Europameisterschaft. Nach dem Viertelfinalaus gegen Spanien verlässt die DFB-Elf die EM-Bühne. Ihr Coach wählt erneut emotionale Worte.

Ein "Scheiße" rutscht Julian Nagelsmann doch raus. Die erste Frage bei der letzten Pressekonferenz des DFB geht natürlich an ihn. Seit 16,5 Stunden ist die Heim-Europameisterschaft nun schon für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft vorbei. Die Nacht war kurz für alle: für die drei auf dem Pult und auch alle davor in der großen DFB-Presseturnhalle in Herzogenaurach. Um 20.37 Uhr am Freitagabend beendete Schiedsrichter Anthony Taylor das Viertelfinale gegen Spanien. Um 13.04 Uhr des nächsten Tages sprechen der Bundestrainer, der DFB-Präsident und der Sportdirektor nacheinander.

Es beginnt Bernd Neuendorf, der seinen 63. Geburtstag feiert. Der Präsident ordnet die vergangenen drei Wochen ein. Er nennt viele Schlagworte: "Guter Gastgeber", "können Stolz sein", "zentrales Ziel erreicht". Er dankt dem Ausrüster Adidas, und vielen Menschen, auch denen neben sich. Sportdirektor Rudi Völler kommt danach zu Wort, er erinnert an die Abfahrt mit dem Bus zum Spiel gestern. "Das geht unter die Haut, das habe ich als alter Hase noch nicht erlebt", sagt er.

Und dann spricht der Bundestrainer. Sein Auftritt ist ein denkwürdiger. Noch immer ist er völlig emotionalisiert von dem, was nur wenige Stunden zuvor im Stuttgarter Stadion passiert ist: Als sich die DFB-Elf einen großen Fight mit dem Turnierfavoriten Spanien geliefert hat. Wie sein Team zurückkam, ausglich und am Ende doch verlor. Die Heim-EM endet im Viertelfinale, nicht im Endspiel von Berlin, so wie er es gehofft hat. Schon die Reise dorthin war besonders gewesen: das rauschende 5:1 gegen Schottland, das Notfallplan-1:1-Remis gegen die Schweiz, das Blitz-und-Donner-Achtelfinale gegen Dänemark.

Der völlig neue Bundestrainer

Nagelsmann ergreift das Wort. "Zu Beginn will ich erst mal Danke sagen, an die ganzen Fans im Land." Die Stimme des Bundestrainers bricht wie schon am Vorabend, die Augen sind glasig. Er hält kurz inne. "Man merkt, ich kämpfe mit den Tränen. Aber es war sehr emotional, sowohl mit der Mannschaft als auch mit den Fans." Er räuspert sich, die Kameras klicken im Hintergrund. "Ich habe immer gesagt, wir brauchen die Menschen im Land vereint hinter uns. Wir wissen auch, dass die letzten Turniere nicht gut waren. Dass wir als Nationalmannschaft, als Verband nicht viel zurückgegeben haben, für die Menschen im Land."

Schon nach dem Abpfiff äußerte sich der Bundestrainer bewegend. Bei all den Geschichten, die dieses Turnier bislang erzeugt hat, ist da diese völlig neue: ein emotionaler Bundestrainer. Das gab es weder in den 16 Jahren mit Joachim Löw noch in der kurzen Ära von Hansi Flick, auch in der DFB-Historie müsste man lange dafür kramen. Nagelsmann, das sagt Neuendorf, habe für ihn das Amt des Bundestrainers neu definiert. "Er hat eine unglaubliche Energie ausgestrahlt, einen unglaublichen Spirit."

Nagelsmann weiß, was er wann sagen muss. Das wurde auch in den vergangenen drei Wochen klar, in den vielen Pressekonferenzen. Seine Pointen sitzen, er hat ein Gespür für den Raum, findet oft die richtigen Worte. Man könnte ihm Selbstdarstellerei unterstellen. Doch der Vorwurf trägt nicht. Er meint das, was er sagt, ernst. Ihm hing wahnsinnig viel an seiner Vision. Das Ende war tränenreich, erzählt der Bundestrainer. Keiner habe das Camp gerne verlassen, obwohl sie sechs Wochen aufeinanderhingen. Bis tief in die Nacht hätten sie noch alkoholfrei zusammengesessen, ohne den Bundestrainer. Als Letztes sei Kapitän İlkay Gündoğan von Bord gegangen, berichtet Nagelsmann.

Was muss das für ein Druck gewesen sein vor dem Turnier: Die Erwartungen an die DFB-Elf waren gewaltig. Immer wieder fiel der Sommermärchen-Vergleich, dafür brauchte es aber auch guten Fußball. Dass das Team tatsächlich schaffte, Spaß an der deutschen Fußball-Nationalmannschaft zu erzeugen, erklärt, welche Last von Nagelsmanns Schultern gefallen sein muss. Er übernahm eine Nationalelf, deren Festplatte voller schlechter Erinnerungen war - allein die Turnierdebakel in Russland und Katar. Er und sein Trainerteam hätten viele Entscheidungen getroffen, die so nicht jeder getroffen hätte, sagt Nagelsmann. "Weil wir einfach eine Vision hatten, einen Glauben hatten, dass wir es gut machen können im eigenen Land." Sie holten den Real-Madrid-Star Toni Kroos zurück, sie nominierten Spieler, die vorher noch kein einziges Länderspiel gemacht hatten.

Nicht nur das Negative sehen

Nagelsmann wiederholt auch seine emotionale Regierungserklärung vom Vorabend. "Ich habe es gestern schon gesagt, dass ich mir einfach wünsche für dieses Land, dass wir verstehen, dass gemeinsam immer besser geht", sagt er. "Ich glaube, wir können alle anpacken, dass es nicht so traurig ist, wie es gerade wirkt und nicht alles schwarzgemalt werden muss, wie es gerade schwarzgemalt wird. Man kann immer Probleme sehen - und wir haben Probleme im Land. Man kann aber auch immer von Lösungen sprechen." Er macht ein alltägliches Beispiel. "Wenn ich dem Nachbarn helfe, die Hecke zu schneiden, ist er schneller fertig."

Auch das DFB-Team habe seinen Teil beigetragen. "In diesem kleinen Part des Lebens, Fußball, der für viele eine große emotionale Bedeutung hat", sagt der Bundestrainer. "Natürlich gibt es deutlich wichtigere Themen im Leben als Fußball. Wir haben es geschafft, die Menschen zu einen." Er spricht von einer Symbiose und zwischen DFB-Elf und den Menschen im Land. "Und ich hoffe, dass wir es nachher hinkriegen, diese Symbiose in weit wichtigeren Bereichen fortzusetzen."

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Nagelsmann spricht davon, wie die Gesellschaft immer weiter zersplittere - ein Instagrambild sei wichtiger als ein paar gemeinsame Stunden. "Wir waren lange und ewige Zeit ein Land der Vereine, wo Menschen zusammenkamen und unterschiedliche Dinge gemacht haben: von Fußball über Musikvereine bis zum Trachtenverein, ganz egal." Diese Gemeinsamkeit, gemeinsam Dinge zu bewegen, sei extrem wichtig, sagt Nagelsmann. "Damit wir realisieren, in was für einem wunderschönen Land wir leben - landschaftlich, kulturell, aber auch welche Möglichkeiten haben, wenn wir zusammenhalten." Er habe noch nie einen Menschen getroffen, "der Dinge allein macht und automatisch Dinge schneller, besser, weiter macht, als mit irgendjemandem zusammen". Das gebe es ganz, ganz selten.

Der Bundestrainer braucht nun eine kleine Auszeit. "Ich bin sehr glücklich, dass ich verlängert habe. Ich freue mich auch, wieder anzugreifen, aber ein paar Tage müsst ihr mir schon geben, die brauche ich", sagt Nagelmann. Die Weltmeisterschaft 2026, das versichert er aber nochmals, spukt schon in seinem Kopf. "Ein goldener Pokal ist auch ganz schön", merkt er an, als die größten Emotionen sich auch bei ihm etwas gelegt hatten. Bald ist wieder Nations League, da stehen neue sportliche Fragen an. Wer ersetzt Toni Kroos? Was ist mit den Rio-Weltmeistern Thomas Müller und Manuel Neuer? Und was war eigentlich noch mal die Nations League?

Quelle: ntv.de

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