Tragisches Aus bei Heim-EM Warum der Hype um Nagelsmanns DFB-Team gerechtfertigt ist

Lange Zeit ist nicht klar, wie gut die deutsche Fußball-Nationalelf ist. Das Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann ist schwer zu greifen, auch weil es noch nicht so lange zusammenspielt. Nach dem Aus im EM-Viertelfinale ist klar: Es kann mit den Besten der Welt mithalten.

Zweimal kurz hintereinander, in der 73. und 74. Minute, griff Schiedsrichter Anthony Taylor in seine Hosentasche. Zweimal Gelb, einmal auf deutscher, einmal auf spanischer Seite. Die eine Verwarnung kassierte Maximilian Mittelstädt, die andere Ferran Torres. Es waren weder die ersten noch die letzten Gelben Karten des Spiels. Doch die zwei Karten erzählen eine ganz andere Geschichte.

DFB-Verteidiger Mittelstädt hatte Torres in der Nähe des deutschen Strafraums ungeschickt gefoult. Der Freistoß brachte den Spaniern wertvolle Zeit und eine gefährliche Freistoßflanke. Wenige Sekunden später umklammerte ebenjener Torres den DFB-Zauberer Jamal Musiala, der gefährlich viel Tempo in Richtung des spanischen Tores aufgenommen hatte. Während Mittelstädts Foul dem DFB-Team geschadet hat, hat Torres seiner Mannschaft geholfen, schließlich verhinderte er einen gefährlichen Konter. In einem Spiel, in dem sich zwei Teams versuchen, mit denselben Mitteln zu bekämpfen, in dem es um kleinste Kleinigkeiten geht, können selbst Fouls entscheiden und zeigen, wie reif eine Mannschaft ist.

Diese Szenen sind eine der Geschichten eines bitteren Abends für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, die mit einer 1:2-Niederlage im EM-Viertelfinale gegen Spanien ausscheidet. Es war ein Duell auf Augenhöhe, ein langer Fight, ein "Spitz-auf-Knopf-Spiel", wie DFB-"Connector" Thomas Müller es später beschrieb. Das EM-Viertelfinale war aber auch eine Standortbestimmung für das DFB-Team. Lange war es ein Rätsel: Wie gut ist die DFB-Elf eigentlich? Das Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann war vor und auch während des Turniers schwer zu fassen. Auch, weil die Gegner (Schottland, Ungarn, Schweiz, Dänemark) irgendwie alle nicht wirklich aussagekräftig waren. Jedes Team hatte seine Stärken, aber eben auch seine klaren Schwächen.

Jetzt weiß man, wo das Limit liegt. Die Nagelsmänner können mit den besten Teams der Welt mithalten. Der Hype, der mit dem Amtsantritt von Nagelsmann aufkam, ist gerechtfertigt. Das war vorher nicht unbedingt klar, schließlich war die DFB-Elf ja erst in den vergangenen Monate entstanden. Als hätte irgendjemand auf den Kalender geschaut und festgestellt: Ach, wir spielen ja eine Heim-Europameisterschaft. Bundestrainer Nagelsmann setzte dabei alles auf eine Karte: Es war die letzte Möglichkeit für einen Neuanfang. Er brach mit den Erfahrungen der Debakelturniere in Russland und Katar. Er ordnete die Struktur, gab ihr eine neue Hierarchie. Er holte Toni Kroos zurück, der sich auf das Wagnis nur einließ, weil er an das Team und den Bundestrainer glaubte. Es entstand ein vielversprechendes Konstrukt aus "Zauberern" und "Workern", eben aus Jamal Musiala und Robert Andrich.

"All das will man sehen"

Die März-Länderspiele gegen Frankreich und die Niederlande waren die Geburtsstunde einer neuen Nationalelf. Eine, die aufregend sein kann, die ihre Fans mitreißen kann. Man konnte dem Team beim Wachsen zuschauen. Wie es sich zwischen Lyon und Frankfurt am Main im März das erste Mal fand. Wie groß die Begeisterung war, als es die französische Elf schon nach acht Sekunden in Lyon schockte. Und wie groß die Erleichterung war, als das Spiel gegen die Niederlande in Frankfurt gedreht wurde. Dann folgte der Weg zur EM, eben mit einem guten Gefühl. Gegen die Ukraine bewies das Team, dass es nicht irgendwann verzweifelt auseinanderfällt, wenn es lange 0:0 steht. Gegen Griechenland zeigte sich, dass eine miserable erste Hälfte nicht das Ende bedeutet - und man auch solche Spiele gewinnen kann.

Bis die Heim-EM begonnen hatte, war aus dem zarten Pflänzchen schon ein kleiner Baum geworden. Die DFB-Pflanze wurde weiter mit Erlebnissen gedüngt: das rauschende 5:1-Fest gegen Schottland, der Physis-Erfolg gegen Ungarn. Dann waren die schwierigen Minuten gegen die Schweiz, die in der Erkenntnis mündeten, dass der Nagelsmann'sche Notfallplan doch funktioniert. Der Gipfel war das Blitz-und-Donner-Achtelfinale gegen Dänemark: Als über dem Dortmunder Westfalenstadion die Wolken brachen, das DFB-Team aber intakt blieb. Bei all den Duellen blieb in der eher skeptischen deutschen Natur eine Frage offen: War die DFB-Elf so gut oder die anderen so schlecht?

Viele Dinge, die das Team in den vergangenen Wochen und Monaten erst lernen musste, wendete es im Viertelfinale gegen Spanien auch an. Thomas Müller fasste die Partie in wenigen Worten später perfekt zusammen, es sei all das gewesen, was man sich als Fan von einem EM-Viertelfinale erwarte: "Man will Feuer sehen, packende Zweikämpfe, Hin und Her, Augenhöhe und all das will man sehen." Genau das war es. Die DFB-Elf trat in den ersten Minuten selbstbewusst auf - und auch das hatte man länger nicht gesehen: überraschend physisch. Mittelfeldregisseur Toni Kroos, der im DFB-Dress bislang nur für die feine Klinge bekannt war, rasierte gleich zu Beginn den jungen Pedri, der danach ausgewechselt werden musste.

Dann begannen die Psychotricks des spanischen Spiels

Bis eben die Spanier das 1:0 kurz nach der Halbzeit erzielten. Dani Olmo traf in der 51. Minute, weil der eingewechselte Robert Andrich sich am eigenen Strafraum verschätzte. Das Tor änderte das Spiel komplett. Die Nagelsmänner waren danach deutlich offensiver, sie wagten immer mehr. Der Gegentreffer habe die Fesseln gelöst, sagte Müller. "Wir haben viel zielstrebiger Richtung Tor gespielt, mehr Torchancen gehabt." Das DFB-Team drückte auf das 1:1 und kam dem Treffer von Minute zu Minute immer näher.

"Man hat in der Phase nicht viel gesehen von spanischer Kontrolle", sagte Müller weiter. Doch die Spanier begannen, ihre anderen Trumpfkarten zu ziehen: ihre Erfahrung, ihre Reife. Die Psychospiele gingen los. In der 66. Minute wurde Youngster Lamine Yamal ausgewechselt. Der 16-Jährige bewies beeindruckende Chuzpe, nahm er sich doch vor dem laut pfeifenden Stuttgarter Publikum alle Zeit der Welt. Beim spanischen Torwart Unai Simon dauerte jeder Abstoß plötzlich ewig lang.

Und sie ließen nicht nach. Mal lag der eingewechselte Innenverteidiger Nacho, der mit Real Madrid nun schon alles erlebt hat, gefühlte Minuten auf dem Boden und hielt sich den Rücken. Die TV-Wiederholung offenbarte sein Schauspiel: Nacho hatte sich in den Sprint von Florian Wirtz gestellt, der DFB-Star versuchte, ihm noch auszuweichen und berührte ihn leicht. Manchmal schlugen die Spanier dann auch über die Stränge. Real-Verteidiger Dani Carvajal versuchte in der Nachspielzeit der Verlängerung noch Jamal Musiala zu stoppen. Er griff ihm dabei ins Gesicht und kann am Ende froh sein, dass er nur Gelb-Rot und nicht den glatten Platzverweis gesehen hat.

Müller lobt seine Nachfolger

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Dass die Spanier, bislang im Turnier eine der besten Mannschaften, am Ende so kämpfen mussten, ist ein Beweis, dass die DFB-Elf viel richtig gemacht hat, dass sie eben wieder mit den Besten der Welt mithalten kann. Das war lange nicht so, vor allem im Länderspieljahr 2023, wo es Niederlagen gegen Belgien, Japan und Kolumbien setzte. "Alles eigentlich wunderbar, aber in so einem Spitz-auf-Knopf-Spiel kann das auch mal in die Hose gehen", sagte Müller. Bei den beiden Gegentoren sah die DFB-Elf nicht unbedingt glücklich aus. Das Handspiel des Spaniers Cucurella, der einen Schuss von Musiala in den letzten Minuten mit dem Arm blockte, löste überschäumende Diskussionen aus.

Müller fasste es am Ende in einem Satz zusammen. "Wenn du so verlierst und dann noch vermeintlich etwas unglücklich, dann ist alles okay", erklärte er den Journalisten. Die Trauer überwiege gerade, aber es sei angenehmer, mit einer guten Leistung auszuscheiden. Er lobte Wirtz und Musiala. Es sind diejenigen, die wohl bald die Verantwortung übernehmen, die er bis jetzt hatte. Und Müller lobte auch die grundsätzliche Richtung der Nationalelf. "Für alle Beteiligten fühlt es sich schon mehr so an, dass wir schaffen, dieses Potenzial auch in wettbewerbsfähiges Konstrukt zu bauen." Bei der Weltmeisterschaft 2026 in den USA, Kanada und Mexiko ist das Team dann auch älter als ein paar Monate. Und wer weiß, vielleicht ist der ein andere bis dahin auch etwas abgezockter.

Quelle: ntv.de

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