Kroatien trauert, Italien jubelt 31 verrückte EM-Sekunden münden in späte Tragik

Um das EM-Achtelfinale zu erreichen, muss Kroatien gewinnen. Superstar Luka Modrić trifft spektakulär zur Führung, die bis tief in die Nachspielzeit reicht. Dann schlägt Italien zu. Und trübt damit die Geschichte der 31 verrücktesten Sekunden dieser Fußball-Europameisterschaft.

Am Ende dieser fast 100 Minuten bleibt nur Fassungslosigkeit. Vor Freude auf der einen Seite, vor Schmerz auf der anderen. Hier die zum Siegen verdammten Kroaten mit ihrem alternden Superstar Luka Modrić, der einen erst nach minutenlangem Videostudium gepfiffenen Elfmeter verschießt, aber nur 31 Sekunden später doch zur Führung trifft. Dort die Italiener, der Titelverteidiger, dem bei einer Niederlage das EM-Aus droht und der tief in der Nachspielzeit mit der allerletzten Aktion und einem Schuss in den Winkel doch noch den Ausgleich erzielt.

Als Schiedsrichter Danny Makkelie wenige Momente nach dem alles verändernden Tor abpfeift, sinken die Vatreni geschlagen zu Boden, während die Azzurri im Jubel versinken. Wäre dieses Fußballspiel zwischen Kroatien und Italien ein Film, würde das Drehbuch völlig zu Recht als komplett überdreht bezeichnet werden. Dieses 1:1 (0:0) wird aus verschiedensten Gründen seinen Platz in der Historie der Fußball-Europameisterschaften finden - dass Modrić sich mit seinem Treffer in der 55. Minute im Alter von 38 Jahren und 289 Tagen zum ältesten Torschützen der Turniergeschichte krönt, ist zumindest im Stadion in Leipzig an diesem Montagabend bestenfalls eine Randnotiz.

Mit nun doch nur zwei Punkten und einem wegen der 0:3-Auftaktpleite gegen Spanien miserablen Torverhältnis ist Kroatien auf massive Schützenhilfe angewiesen, um irgendwie als einer der vier besten Gruppendritten doch noch das Achtelfinale zu erreichen. Wie schon beim 2:2 gegen Albanien führt der WM-Dritte von 2022 und WM-Finalist von 2018 bis tief in die Nachspielzeit und verpasst es trotzdem, den Vorsprung über die Zeit zu bringen. Die Verrücktheit dieses Sommerabends verdichtet sich allerdings schon weit vor dem Last-Minute-Treffer von Mattia Zaccagni. Und zwar in 31 Sekunden, die sich über die 54. und 55. Spielminute erstrecken.

Donnarumma gewinnt das erste Duell, Modrić das zweite

Italiens Davide Frattesi hat zuvor den Ball mit der Hand gespielt, Makkelie sich sofort ans Ohr gefasst, um den heftig protestierenden Kroaten zu bedeuten: Der Videoassistent ist dran. Für die finale Entscheidung muss Makkelie an die Seitenlinie, schaut sich die Szene selbst noch einmal an. Die kroatischen Fans pfeifen sich derweil die Lunge aus dem Hals, weil sie natürlich ein glasklares Handspiel erkannt haben, egal, wie weit vom Geschehen sie entfernt sitzen. Dann pfeift auch der Unparteiische - und deutet unmissverständlich auf den Elfmeterpunkt.

Kapitän Modrić schnappt sich den Ball, übernimmt Verantwortung. Im Klub bei Real Madrid ist er inzwischen entbehrlich geworden, in den K.-o.-Runden auf dem Weg zum Champions-League-Titel stand er kein einziges Mal in der Startelf. Auch rund um die Nationalelf wird inzwischen diskutiert, ob der 38-Jährige nicht schon zu weit entfernt von der Klasse früherer Tage ist, um von Trainer Zlatko Dalić weiterhin mit einer zentralen Rolle bedacht zu werden. Der Elfmeter bestätigt all jene, die diese Sicht teilen: Italiens Torhüter Gianluigi Donnarumma erahnt den Schuss in die rechte untere Ecke und verhindert den Rückstand.

Die Freude aber währt nicht einmal eine Minute: Die Kroaten erobern den Ball zurück, ziehen einen neuen Angriff auf, der in einen Abschluss von Ante Budimir aus kürzester Distanz mündet. Wieder ist Donnarumma zur Stelle, kann diesmal jedoch nicht zur Seite zu klären, sondern nur nach vorne. Dort steht, natürlich: Luka Modrić. Er schießt ein zur Führung und lässt Mitspieler, Trainer und Fans gleichermaßen ausrasten. Noch bevor die "Schlecht geschossen oder stark gehalten?"-Diskussion beginnen kann. Es sind die verrücktesten, die absurdesten 31 Sekunden dieser EM. Wer eine solche Szene vorhergesagt hätte, wäre ziemlich sicher ausgelacht worden.

Modrić kaut auf seinem Trikot, dann schlägt Italien zu

Schließlich bietet dieser letzte Spieltag der Gruppe B potenziell auch die Chance, der letzte große Auftritt von Modrić in der kroatischen Nationalmannschaft zu sein. Zum 178. Mal trägt er das Trikot der Vatreni, der Feurigen, deren Fans dem Namen in Leipzig alle Ehre machen und ein paar Pyro-Fackeln zünden. Sogar ein Karriereende steht im Raum, weil Modrićs Vertrag bei Real Madrid in wenigen Tagen ausläuft und seine Zukunft ungewiss ist, auch wenn sich die Hinweise auf eine weitere Saison bei den Königlichen zuletzt verdichtet haben. "Ich würde mir auch wünschen, ewig auf dem Platz zu stehen. Aber irgendwann werde ich aufhören. Wann ich aufhöre, weiß ich noch nicht", sagt er selbst.

Sollte es wirklich sein letztes Spiel für Kroatien gewesen sein, bietet sich neben dem 31-Sekunden-Wahnsinn noch ein weiteres Bild an, das es in alle Rückblicke schaffen dürfte: der bangende Modrić. Tief in der achtminütigen Nachspielzeit schaltet die Stadionregie auf die Kamera, die den in der 80. Minute ausgewechselten Spielmacher zeigt. Er steht vor der Ersatzbank. Sichtbar angespannt. Zieht sein Trikot hoch, nimmt den Saum in den Mund. Wahrscheinlich, um Stress abzubauen, die Anspannung irgendwie zu verringern in der Hoffnung, dass die Kollegen auf dem Feld den Vorsprung auch in den letzten Momenten bewahren.

Wenige Sekunden später bekommt Zaccagni auf der linken Strafraumseite den Ball, zielt nach rechts oben ins lange Eck und trifft vorbei am sich vergeblich streckenden Dominik Livaković zugleich ins Tor und mitten ins Herz der Kroaten. 1:1. Italien springt wieder auf Platz zwei und steht sicher im Achtelfinale, Kroatien fällt zurück auf Platz drei und auf zwei Punkte, die kaum dafür reichen, als zwei andere Gruppendritte hinter sich zu lassen und auch in die K.-o.-Runde einzuziehen. Die Fans der Squadra Azzurra können ihr Glück kaum fassen, während die kroatischen Anhänger nicht begreifen wollen, was gerade geschehen ist. Ihre Helden stellen sich noch für einen letzten langen Ball vors italienische Tor auf, doch Schiedsrichter Makkelie pfeift ab, bevor der Pass geschlagen werden kann.

Wie geht es weiter für Luka Modrić?

Zaccagni ist der Mann des Abends, als Mann des Spiels wird trotzdem Luka Modrić ausgezeichnet. Das offizielle Foto dazu zeigt ihn mit versteinerter Miene - die Abstimmung ist natürlich vor dem Ausgleichstreffer erfolgt, der im Stadion erst ganz offiziell verkündet wird, als die Partie bereits abgepfiffen ist. Wer jetzt eine Eskalation angesichts des Frusts vermutet, liegt falsch: Die kroatischen Fußballer trotten langsam in die rot-weiße Kurve und werden mit Applaus bedacht. Sie haben gegeben, was sie konnten, und es hat nicht gereicht. Die drei Vorrundenspiele gegen Spanien, Albanien und Italien haben gezeigt, dass die Ära der goldenen Generation ihrem Ende ganz nah ist. Dazu zählt auch Ivan Perišić, der in der Bundesliga einst für Dortmund, Wolfsburg und München spielte, jedoch als Joker das nahezu sichere EM-Aus nicht verhindern kann.

Dabei sieht in der Anfangsphase alles noch so gut aus: Italien überlässt Kroatien die Spielkontrolle, Modrić weicht aus dem Zentrum auf den Flügel aus, in der fünften Minute lenkt Donnarumma einen Schuss von Luka Sučić gerade noch so ums Tor. Die Fans der Vatreni behalten die Lautstärke-Hoheit, obwohl die Partie in der Folge etwas kippt. Der Titelverteidiger wird stärker und vergibt die größte Chance zur Führung in der 27. Minute, als Alessandro Bastoni mit einem Kopfball am großartig reagierenden Livaković scheitert. Modrić lässt sich mitunter bis zwischen die Innenverteidiger fallen, um sich die Bälle zu holen, kann aber nur wenige Akzente setzen.

In der 60. Minute, nach dem verschossenen Elfmeter und der Ekstase des Führungstreffers, räumt er im Mittelfeld zwei Italiener und verdient sich die Gelbe Karte. Ein letztes Hurra, wie es sein Real-Teamkollege Toni Kroos in der deutschen Mannschaft erlebt, bleibt dem Weltfußballer von 2018 allerdings verwehrt. Zu groß sind die Defizite inzwischen, die auch in Madrid dazu geführt haben, dass Modrić bei seinen 46 Einsätzen in allen Wettbewerben im Schnitt nur rund 48 Minuten auf dem Feld stand. In gerade einmal sechs dieser Partien spielte er von Anpfiff bis Abpfiff.

Ob er weitermacht oder nicht, lässt Modrić kurz nach Spielende offen. Dass er mit dem Rest der Mannschaft auf die kurze Applausrunde geht, könnte bedeuten, dass es auch nach der EM noch weitergeht. Vielleicht aber auch, dass der 38-Jährige einfach noch ein bisschen Zeit benötigt, um seine (fußballerische) Zukunft zu sortieren. Kurz nach dem Abpfiff tröstet er in erster Linie seine Mitspieler, allen voran den Leverkusener Josip Stanišić, der am Mittelkreis kniet und Tränen zu vergießen scheint. Der 24-Jährige ist eines der Gesichter, die die Nach-Modrić-Zeit prägen könnten, an die gerade jedoch kaum jemand denken möchte. Zu sehr wirken die irren, die verrückten Szenen dieser 100 Minuten nach.

Quelle: ntv.de

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