Fußball-EM

Der "elegantere" Odonkor Musiala stresst Löws Offensiv-Hierarchie

Die deutsche Nationalmannschaft wankt ins Achtelfinale der Fußball-Europameisterschaft. Weil zwei Joker von Bundestrainer Joachim Löw treffen. Den einen, Leon Goretzka, hatte man bereits auf der Rechnung. Den anderen, Jamal Musiala, sollte man spätestens jetzt draufpacken.

David Odonkor hat es ganz anders gemacht. Mit mehr Tempo, mit mehr Wucht. Nicht so elegant, so überlegt wie Jamal Musiala nun. Dennoch war Odonkors Flanke auf Oliver Neuville gegen Polen historisch. Wenn auch erst in der Nachbetrachtung der Fußball-WM 2006, dem Sommermärchen in Deutschland. Es ist schon reichlich kurios, aber den Namen von Odonkor vergisst man irgendwie nicht. Niemand. Auch, wenn seine Karriere danach kaum noch Highlights hatte. Viele andere Spieler aus dem Kader sind längst aus der kollektiven Erinnerung gestrichen. Robert Huth etwa. Oder Tim Borowski. Oder Mike Hanke. Spannend übrigens: Der Turnierkader 2006 war der erste, an dem Joachim Löw mitgeschraubt hatte. Als Assistent von Jürgen Klinsmann.

Es ist wirklich wahr, so lange ist Löw schon dabei. 2004 stieg er ein, nach der WM 2006 auf. Zum Bundestrainer. Das ist er bis heute. Ohne Unterbrechung. Allerdings ist sein Ende terminiert. Nach der laufenden EM ist Schluss. Präziser geht es nicht. Vier Spiele sind noch möglich. Am 11. Juli steht das Finale in Wembley an. Der Weg dorthin ist indes noch mit reichlich schwierigen Aufgaben gepflastert. Die nächste: Das Achtelfinale am kommenden Dienstag. Gegen England. Auch schon in Wembley. Dass Löw nun noch mindestens knapp eine Woche Bundestrainer ist, das hat er Leon Goretzka zu verdanken, der das erlösende 2:2 gegen Ungarn erzielte und damit das Weiterkommen fix machte. Und er hat das dem 18 Jahre alten Musiala zu verdanken, dem nun jüngsten Turnier-Debütanten in der DFB-Geschichte. Er löst Lukas Podolski ab.

Musiala, der beim FC Bayern spielt, war erst ein paar Minuten auf dem Platz, als er am linken, hinteren Ende des Strafraums den Ball ersprintete. Er legte ihn sich vom linken Fuß auf den rechten, perfekt in der Ballbehandlung und passte zu Goretzka. Der versuchte erst Timo Werner in Szene zu setzen, doch dessen abgefälschter Schuss landete wieder bei Goretzka und dann schließlich mit Wucht im Tor. Die Erlösung an einem Abend, der lange Zeit das Gefühl von Verzweiflung vermittelte. So ratlos und anfällig waren die Deutschen gegen Ungarn gewesen.

Kommt nun Musialas große Zeit?

Ob dieses kurze Dribbling von Musiala einen historischen Moment schaffen wird? Das ist jetzt noch unklar. Ob man in 15 Jahren noch an den 18-Jährigen denkt? Ebenfalls unklar. Es ist aber durchaus wahrscheinlich. Denn Musiala gilt als absolutes Top-Talent, bekommt in München vernünftig viel Spielzeit und in der Nationalmannschaft künftig einen Trainer, der ihn bislang prima gefördert hat: Ex-Bayern-Coach Hansi Flick. Was indes jetzt schon klar ist, das Remis gegen Ungarn wird nicht der Auftakt eines neuen Sommermärchen-Gefühls werden. Sicher nicht. Kann noch kommen. Ebenso wie die große Zeit von Musiala. Schon in diesem Turnier.

Bislang kann der Bundestrainer nicht behaupten, sich einen Namen als großer Förderer des Talents gemacht zu haben. Klar, er hatte ihn im März in die Nationalmannschaft geholt, hatte ihn überzeugt nicht mehr für England zu spielen, was das Duell nächste Woche übrigens spannend macht. In der Jugend war Musiala für die "Three Lions" aufgelaufen. Er besitzt beide Staatsbürgerschaften. Seine fußballerische Ausbildung bekam er vor allem beim FC Chelsea, für den er zwischen 2011 und 2019 spielte, ehe der geborene Stuttgarter nach Deutschland zurückkehrte und beim FC Bayern anheuerte. Löw hatte neben Musiala im März auch Florian Wirtz in den Kader geholt. Mindestens einer sollte eine berechtigte EM-Chance haben.

Es wurde Musiala. Wirtz tröstete sich mit einer spektakulären Show und dem Titel bei der U21-EM. Musiala dagegen fuhr mit ins Trainingslager. Und weil Löw dieses Mal 26 Spieler für das Turnier nominieren durfte und genau das tat, war sein Platz im Turnier sicher. Zunächst war der indes auf der Tribüne. Denn für die Spiele gilt weiterhin: nur 23 Mann auf dem Spielberichtsbogen, also auf der Bank. Die anderen auf der Tribüne. Wie Musiala. Als einer von dreien. Dies habe zum einen am "sehr starken Kader insgesamt" gelegen, betonte Löw vor dem Spiel gegen die Ungarn. Außerdem müsse Musiala bei Turnieren noch lernen: "Es ist eine andere Drucksituation." Löw sagte vor dem Spiel aber auch: Musiala rückt ins Team.

Gnabry und Sané müssen hinschauen

Und die Begründung des Bundestrainers war fast schon eine Prophezeiung: "Im Training sieht man seine Klasse in engen Räumen, da sind viele Dinge, die sehr gut sind für sein Alter." Zudem trete Musiala viel selbstbewusster auf und werde immer "klarer in seinem Spiel. Er hat sich an das Tempo und seine Mitspieler besser gewöhnt und hat Fortschritte gemacht." Klasse in engen Räumen, klarer in seinem Spiel, so könnte man die wichtige Vorlage zum 2:2 tatsächlich beschreiben. Es war nicht die erste, nur die prägendste Szene seines Auftritts.

Und auch wenn der nur rund zehn Minuten dauerte, er versprach eine Menge. Er erhöht den Druck auf Serge Gnary und Leroy Sané. Kai Havertz hat wegen seiner starken Leistung gegen Portugal und seinem Tor gegen Ungarn (zum 1:1) einen gewissen Kredit. Auch wenn er gegen Ungarn sonst nicht sonderlich auffiel. Unauffällig war auch Gnabry. Ihm ist die Leichtigkeit doch arg abhandengekommen. Oft waren Länderspiele seine Bühne. Für Tricks und Tore. Aktuell kommt er über sein Bemühen. Er kann mehr. Er kann es besser. Ein Rätsel ist auch Sané, der für den angeschlagenen Thomas Müller durchaus überraschend in die Startelf gerückt war. Der Dribbler wollte bei dieser EM richtig loslegen, der Welt mal konstant zeigen, was seine begnadeten Füße so alles hergeben. Doch der Ankündigung folgt ein Krampf. Auf fast schon bemitleidenswerte Weise agierte er gegen Ungarn. Das war richtig bitter. Musiala dagegen kam rein, haute sich rein, wollte den Ball, das Duell. Mutig, unbekümmert. Nicht immer erfolgreich.

Aber wie viel Mut und Bock er hat, das zeigte er vor dem 2:2. Er sprintete selbstverständlich in den Laufweg des eingewechselten Müller, dem Chef. Es war tatsächlich die bessere Option. Aber das muss man sich mit 18 Jahren mal trauen. Das Spiel droht verloren zu gehen, Deutschland auszuscheiden, der Bundestrainer blamiert abzutreten und dann schnappt sich Musiala den Ball und macht einfach was Kluges daraus. Ganz anders als Odonkor. Nicht mit so viel Tempo und Wucht, dafür eben elegant und überlegt. In 15 Jahren wird man wohl einige Namen vergessen haben, aber vielleicht nicht den von Musiala.

Quelle: ntv.de

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