Als Verlierer ihrer EM-Auftaktspiele stehen Österreich und Polen im direkten Duell unter Druck. In der Halbzeit schnappt sich Trainer Ralf Rangnick seinen Musterschüler, die Ansage zeigt Wirkung. Bei den Polen verpufft derweil die Hoffnung, Stürmer Robert Lewandowski könne den Unterschied machen.
Als Robert Lewandowski nach rund einer Stunde von der Bank zur Seitenlinie schreitet, steigen Lautstärke und Aufgeregtheit auf den Tribünen des Berliner Olympiastadions spürbar an. Die Fans der polnischen Fußballer, klar in der Überzahl an diesem Samstagabend, verbinden schließlich große Hoffnungen mit der Einwechslung ihres Kapitäns. Die Auftaktniederlage gegen die Niederlande hat der 35-Jährige wegen muskulärer Probleme noch verpasst, jetzt soll er, trotz gut sichtbar verbundenem rechten Oberschenkel, als Joker und beim Stand von 1:1 die "bialo-czerwony" zum Sieg führen.
Und tatsächlich kippt das Spiel anschließend, nur eben in die - aus Sicht der Weiß-Roten - völlig falsche Richtung. Vier Minuten nach seiner Einwechslung holt sich der Mittelstürmer wegen eines Ellbogenschlags eine absolut verdiente Gelbe Karte ab und das bleibt auch bis in die Schlussphase hinein die einzige Aktion Lewandowskis, die Eindruck hinterlässt. Als 11 Ballkontakte und 35 Minuten später der Abpfiff erfolgt, sind die Gesänge der polnischen Fans längst verstummt. Stattdessen berauschen sich die österreichischen Anhänger unter der Abendsonne mit einem inbrünstigen "Oh wie ist das schön" an diesem 3:1 (1:1)-Triumph, den ihre Mannschaft sich mit einer deutlichen Leistungssteigerung in der zweiten Halbzeit verdient.
Tore: 0:1 Trauner (9.), 1:1 Piatek (30.), 1:2 Baumgartner (66.), 1:3 Arnautovic (78., Foulelfmeter)
Polen: Szczęsny - Bednarek, Dawidowicz, Kiwior - Piotrowski (46. Moder), Slisz (75. Grosicki) - Frankowski, Zalewski - Zieliński (87. Urbanski) - Buksa (60. Lewandowski), Piatek (60. Swiderski). - Trainer: Probierz
Österreich: Pentz - Posch, Lienhart, Trauner (59. Danso), Mwene (63. Prass) - Seiwald, Grillitsch (46. Wimmer) - Laimer, Baumgartner (81. Schmid), Sabitzer - Arnautović (81. Gregoritsch). - Trainer: Rangnick
Schiedsrichter: Halil Umut Meler (Türkei)
Gelbe Karten: Slisz, Moder, Lewandowski, Szczęsny - Wimmer, Arnautović
Zuschauer: 70.000 (ausverkauft) in Berlin
Auch der österreichische Fan, der sich vor Anpfiff und vom Regen durchnässt bei einem mobilen Bierverkäufer anstellt, dürfte in diese Zeilen eingestimmt haben. Dabei rechnet er knapp drei Stunden vor jenen Szenen noch mit einer Enttäuschung und erfüllt damit das Klischee, dass die Österreicher im Zweifel erst einmal pessimistisch auf die Dinge blicken. "2:0 für uns" lautet zwar sein Tipp, "aber eigentlich glaube ich da gar nicht dran." Er rechnet viel eher damit, am Ende der 90 Spielminuten enttäuscht zu sein. Immerhin sei die Anreise wegen des besonderen EM-Angebots der Deutschen Bahn - wer ein Ticket hat, kann seine Fahrt zum Spielort zum Fixpreis von 29,90 Euro buchen - erfreulich günstig und entspannt gewesen.
Dass sich diese Reise lohnt, dafür sorgt Christoph Baumgartner, der in der 66. Minute den Führungstreffer erzielt. Ein grandioser Pass des eingewechselten Alexander Prass von der linken Seite und eine Finte von Marko Arnautović bringen Baumgartner im Zentrum in die perfekte Position, aus knapp 16 Metern schiebt der Offensivmann so überlegt wie präzise ins rechte untere Eck ein. Torwart Wojciech Szczesny ist geschlagen. Und Baumgartner startet seinen Jubelsprint, der in den Armen von Ralf Rangnick endet. "Weil er mich täglich brutal unterstützt", sagt der 24-Jährige hinterher, "speziell heute in der Halbzeit". Da habe Rangnick "zwei, drei Minuten nur mit mir geredet".
Rangnick enthemmt Österreich, Arnautovic weint vor Freude
Denn Baumgartner ist so etwas wie der Musterschüler von Fußball-Professor Rangnick. Seine aggressive Spielweise, sein engagiertes Pressing, sein unermüdliches Anlaufen gegnerischer Verteidiger ist prototypisch für die Ausrichtung, die Rangnick für erfolgversprechend hält. Baumgartner nimmt dabei eine zentrale Rolle ein, nach der Halbzeit sogar wortwörtlich, weil Rangnick ihn vom Flügel in die Mitte zieht. Und weil er einen (klassischen) Psychotrick anwendet: Vor dem Spiel schickt der 65-Jährige ihm zudem ein Bild aufs Handy, das Baumgartner jubelnd im Trikot seines Arbeitgebers Rasenballsport Leipzig zeigt. Ein "so will ich dich hier und heute auch jubeln sehen". Um bei seinem Schützling sozusagen die selbsterfüllende Prophezeiung zu beschwören, dass ein Erfolgserlebnis unausweichlich ist.
Um diesen erwünschten Gedanken, dieses Psychospielchen aber Realität werden zu lassen, braucht es in der Halbzeit noch zusätzliche Worte, wie Rangnick berichtet: "Ich habe ihm gesagt: 'Baumi, du bist für uns so ein wichtiger Spieler, wir brauchen dich mindestens mal in Normalform.'" Seine Form der ersten 45 Minuten liegt unter diesem "Normal", aber Rangnick weiß, wo er ansetzen muss. Und wenig später macht Baumgartner schließlich dasselbe wie auf dem eben erwähnten Bild: Er jubelt.
Der Schlüsselspieler versteht die Botschaften also nicht nur, er weiß sie auch umzusetzen. "Ich war nicht zufrieden mit der ersten Hälfte", sagt Baumgartner. In dieser gehen die Österreicher früh durch einen Kopfball von Gernot Trauner (9. Minute) in Führung, müssen jedoch auch den Ausgleich durch den ehemaligen Herthaner Krzysztof Piatek (30.) hinnehmen. In der Phase rund um das Gegentor "waren wir nicht mehr so energetisch", resümiert Baumgartner, "der Druck hat uns ein Stück weit gehemmt". Nach dem bitteren 0:1 gegen Frankreich zum Auftakt muss Österreich schließlich gegen Polen gewinnen, um den Traum vom Achtelfinale wahr werden zu lassen.
"Rechnerisch sind wir noch nicht durch. Es sieht gut aus, aber einen Punkt wirst du schon noch brauchen", sagt Rangnick nach dem am Ende verdienten Sieg, der in den letzten Minuten sogar noch deutlich höher hätte ausfallen können. Nach einem Foul von Szczesny an Dortmunds Marcel Sabitzer erhöht Österreichs Kapitän Marko Arnautovic in der 78. Minute per Strafstoß zum 3:1, danach stehen dem streitbaren Rekordnationalspieler die Freudentränen in den Augen. Der 35-Jährige, mit Inter Mailand gerade souverän Meister in Italien geworden, war von Rangnick etwas überraschend in die Startelf beordert worden und hatte auch emotional für einen Push gesorgt: Bei den Fans genießt er Heldenstatus, kein Name wird beim Verlesen der Aufstellung so laut bejubelt.
Absage an den FC Bayern als Glücksmoment für Österreich
In der 81. Minute werden Baumgartner und Arnautovic ausgewechselt, natürlich unter gewaltigem Applaus des österreichischen Anhangs. Der sitzt größtenteils neben dem Marathontor des Berliner Olympiastadions, über dem in der Schlussphase die Sonne die Regenwolken verdrängt, als bräuchte noch es vom Wetter noch ein eindeutiges Symbol für die positive Entwicklung der Rot-Weiß-Roten. "Immer wieder, immer wieder, immer wieder Österreich" singen die Tausenden freudig, während ihre Mannschaft dem vierten Tor um ein Vielfaches näher ist als die Polen dem Anschlusstreffer. Stefan Posch (84.) und Konrad Laimer (85.) verpassen weitere Treffer nur knapp.
Vor allem die zweite Halbzeit steht sinnbildlich für den Aufschwung, den Rangnick bei der österreichischen Nationalmannschaft verantwortet. Dessen Absage an den FC Bayern bezeichnete Baumgartner jüngst als das Beste, "was dem österreichischen Fußball passieren konnte". Der Deutsche bringe "unfassbar viel Expertise mit, er investiert extrem viel Zeit und Energie", was er zugleich auch den Spielern und Betreuern einfordere. Augenscheinlich mit Erfolg - auch wenn im dritten Gruppenspiel mit den Niederlanden wieder ein Schwergewicht des europäischen Fußballs wartet.
Zwar könnte auch eine knappe Niederlage schon zum Weiterkommen reichen, weil Platz drei durch den Sieg im direkten Duell mit Polen bereits fix ist und vier der sechs Gruppendritten ins Achtelfinale einziehen. Aber Baumgartner denkt, vielleicht auch etwas im Rausch des Erfolges, gar nicht daran, tief zu stapeln: "Wir haben die Deutschen geschlagen", erinnert er den überzeugenden 2:0-Erfolg in Wien im vergangenen November, bei dem er selbst für den Endstand gesorgt hatte. "Wir haben einen Riesenlauf gehabt." Von den jüngsten 18 Länderspielen gewannen die Österreicher 14 bei zwei Remis und zwei Niederlagen, entsprechend groß ist das Selbstvertrauen. "Wenn wir auf unserem Top-Niveau sind", sagt Baumgartner, "können wir viele Nationen schlagen."
Für Lewandowski und die polnischen Fußballer ist die Europameisterschaft in Deutschland dagegen schon gelaufen. Das letzte Gruppenspiel gegen Frankreich verkommt zum Muster ohne Wert, wieder einmal ist schon nach der Vorrunde Schluss, zum vierten Mal bei der fünften EM-Teilnahme. Auf den 35-Jährigen dürfte nun auch die Frage zukommen, ob es womöglich schon seine letzten Auftritte für die "bialo-czerwony" waren. Es wäre ein Abgang als Nebendarsteller.
Quelle: ntv.de