Drei Zauberfüße für den Titel? Papa Kroos coacht "Wusiala" zur ersehnten Explosion
15.06.2024, 06:27 UhrEin Knoten platzt spektakulärer als der andere beim EM-Auftakt: Jamal Musiala macht das Spiel seines Lebens und wirbelt mit Florian Wirtz ganz Schottland durcheinander. All das leitet Toni Kroos in väterlicher Manier und mit genialen Pässen an. Kann diese Kombination zum Titel führen?
"Toni, Toni, Toni", skandieren die Fans. Dabei tritt Toni Kroos lediglich eine Ecke Mitte der zweiten Hälfte, die zu nichts führt. Aber alle hier in der Münchner Arena wissen und sehen: Der Boss ist zurück. Kroos leitet die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei seinem ersten Turnierspiel seit dem Comeback meisterlich an. Auf seinen Befehlen fußt die ersehnte Explosion von den Zauberfüßen Jamal Musiala und Florian Wirtz - und ruht der furiose 5:1 (3:0)-Sieg über Schottland, der so viele Träume freisetzt.
Kroos verteilt Befehle. Er ist der Papa der Mannschaft, der Ruhepol, der Anker. Das Fundament. Die Kids Musiala und Wirtz (beide 21 Jahre alt), die gemeinsam "Wusiala" getauft wurden, wuseln vor ihm durch die gegnerischen Abwehrreihen. Gehen sie ins Dribbling, ins Eins-gegen-Eins oder oftmals Eins-gegen-Drei, ist das eine Augenweide. Der Altstar von Real Madrid, der nach der EM seine Karriere beenden wird, verteilt derweil die nötigen Anweisungen mit Worten und Gestiken. Und mit seinen Füßen. Vor allem mit seinem rechten. Ein dritter Zauberfuß eigentlich. Am Ende steht ein Fehlpass bei 102 Pässen zu Buche.
"Er kontrolliert unser Spiel", erklärt Musiala nach der Partie auf der Pressekonferenz. "Mit ihm zu spielen, ist eine Ehre." Auf die Frage, ob er das Match seines Lebens gespielt habe, antwortet der Bayern-Star: "Es war das Spiel, bei dem ich mich am besten draußen gefühlt habe. Ich bin einfach happy, dass wir so viele Tore geschossen haben und die nächsten Spiele mit Selbstbewusstsein angehen können." Und dann schießt er noch eine Warnung in Richtung der Konkurrenz: "Wir können noch besser spielen."
Beide jungen Zauberfüße treffen
Von Anfang an schickt Kroos die Jungstars mit langen Bällen in die Tiefe. Dabei ist der Mittelfeldchef immer anspielbereit, beim Spielaufbau bildet er hinten eine Dreierkette mit den Innenverteidigern Antonio Rüdiger und Jonathan Tah, und erlaubt sich keine Fehlpässe. Kurze Pässe spielt er mit einem, maximal zwei Kontakten weiter. Dabei presst er bei gegnerischem Ballbesitz aggressiver und höher als sonst, geht mit bestem Beispiel voran, um maximale Intensität ins Spiel zu bringen.
Einer seiner Fuß-Befehle führt nach nur 10 Minuten zum 1:0. Ein Diagonalball von links auf die rechte Seite findet, natürlich punktgenau, Joshua Kimmich. Dessen flache Hereingabe in die Mitte zur Strafraumgrenze verwertet der heranrauschende Wirtz per Direktabnahme ins linke Toreck. Der erste Youngster trifft zum Traumstart, den sich das Nationalteam so ersehnt hatte. Ein erstes Mal schweigen die schottischen Fans, die deutschen brüllen sich den Frust der letzten Jahre von der Seele.
Nur neun Minuten später zeigt Wirtz' kongenialer Partner, dass er es genauso gut kann. Nach einem genialen, öffnenden Pass von Kapitän İlkay Gündoğan genau in die Schnittstelle auf Kai Havertz erhält Musiala den Ball. Der Bayern-Profi vollführt einen seinen eleganten Schlenker, wackelt damit seinen Gegenspieler aus - und zimmert den Ball unhaltbar unter die Latte. Genau solche Situationen hatte er bei der WM-Blamage in Katar immer wieder liegengelassen.
Nun treffen beide jungen Zauberfüße in den ersten 20 Minuten und die deutsche Nationalmannschaft profitiert nun nicht mehr nur von ihrer Leichtigkeit und ihrem Spielwitz, sondern auch von ihrem Torhunger und ihrer Effizienz. "Oh, wie ist das schön", hallt es von den Rängen. Die Fans sind nach Jahren des Schmerzes fürs Erste versöhnt, so schnell geht das manchmal im Fußball.
Musiala - ein Traum für jeden Trainer
"Sie haben unglaubliches Potenzial", sagt Havertz nach der Partie in den Katakomben über Musiala und Wirtz. "Wir können froh sein, dass sie beide in unserer Mannschaft spielen." Der eingewechselte Stürmer Niclas Füllkrug, der ebenfalls ein Tor besteuerte, erklärt, sie "können Unterschiedsspieler sein" und das "erste Tor bringt ihnen Selbstvertrauen" für weitere große Momente im Turnierverlauf.
Unter Papa Kroos wächst etwas heran. Bundestrainer Julian Nagelsmann hatte sein Team bei der Kaderbekanntgabe nicht umsonst als zartes Pflänzchen bezeichnet. Der Sieg gegen Schottland könnte dem schier unendlichen Potenzial von Musiala und Wirtz einen entscheidenden Push gegeben haben. Einen unterstützenden Anstoß, der bei DFB-Fans noch für viel Freude sorgen könnte. Der die Titelchancen deutlich erhöht, wenn die beiden Wunderkinder solche Leistungen über das Turnier vermehrt abrufen können. Ein Spiel gegen Schottland bedeutet nicht viel, aber zumindest haben die beiden 21-Jährigen Nagelsmann gezeigt, dass er zurecht so viel Vertrauen in sie gesteckt hat. Dass sie sich als Jungstar-Duo bei dieser EM nicht hinter den Phil Fodens und Jude Bellinghams verstecken müssen.
Der Knoten ist besonders für Musiala hiermit auch im Nationaltrikot geplatzt, endlich hat er auf größter Bühne für die DFB-Elf getroffen. Er spielt, als hätte er nach Katar etwas zu beweisen. Vor allem: Der Zehner wirbelt nicht nur vorne, sondern arbeitet zusätzlich nach hinten. Wie in der 29. Minute, als er sich tief in der eigenen Hälfte an der rechten Außenlinie den Ball erkämpft, direkt umschaltet, mal schnell durch drei, vier Gegenspieler tanzt und anschließend nur mit einem Foul zu stoppen ist. Zauberfuß eben. Ein Traum für jeden Trainer.
Kurz vor der Pause spielt Musiala erneut alle schwindelig, diesmal im Zentrum, legt auf Gündoğan ab, der nach Kimmich-Flanke den Ball aufs Tor köpft - und daraufhin mit offener Sohle rüde abgeräumt wird. Es gibt Rot für Schottland und Elfmeter für Deutschland, den Havertz eiskalt in die Mitte versenkt. Ein Tor, das neben Havertz und Gündoğan auch Musiala gehört, weil er mit seinem Dribbling die nötigen Räume aufgerissen hat.
Macht's Musiala wie Müller, Klose und Co.?
Als dann das gesamte Team eine Jubeltraube vor der linken Eckfahne bildet, schaut einzig Kroos aus der Entfernung zu. Er spendet Applaus, schaut rüber wie ein stolzer Papa. Auf seine Mannschaft, die sich auf ihn verlässt, die nach seinen Befehlen agiert. Als seine Mitspieler ihm langsam entgegen traben, klatscht der Boss jeden einzeln ab.
In der 74. Minute wird Musiala für Thomas Müller ausgewechselt, der auch mal ein junger Wilder war, bei der WM 2010, nun aber sein 130. Länderspiel absolviert und damit gleichauf mit Lukas Podolski und nur noch hinter Miroslav Klose und Lothar Matthäus liegt. Ob Musialas Weg auch so erfolgreich wird wie der dieser DFB-Ikonen? Vielleicht schon bei dieser EM?
Zumindest wird er mit stehenden Ovationen verabschiedet und wenig später zum Spieler des Spiels gewählt. Dann erhält Musiala die dickste Umarmung von Nagelsmann, bevor er auf der Bank Platz nimmt. Sekundenlang liegen sich beide in den Armen. In diesem Drücker steckte so viel: Dankbarkeit, Wertschätzung, Vertrauen. Und Zukunftspläne. Denn mit einer einzigen starken Leistung ist nichts gewonnen. Das weiß keiner besser als Toni Kroos, der erfolgreiche Dauerbrenner und weise Papa.
Quelle: ntv.de