Lange Zeit findet kein Bundestrainer die richtige Rolle für İlkay Gündoğan. Das scheint sich unter Julian Nagelsmann geändert zu haben. Endlich hat der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft seinen Platz gefunden.
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es. Nach dem fulminanten 5:1-Auftakt in die Heim-Europameisterschaft postete Thomas Müller auf Instagram ein Foto aus der Kabine: noch ungeduscht, verschwitzt und im DFB-Trikot. Neben ihm sitzt İlkay Gündoğan, der den Arm um Müller gelegt hat. Müller hebt den Daumen und kommentiert das Ganze mit: "Unser Capitano ❤️ Weltklasseleistung".
Das DFB-Team liefert den ersehnten euphorisierenden Start in das Turnier. Erstmals seit 2016 geht eine Auftaktpartie bei einem großen Turnier nicht verloren. Die Leistung gegen Schottland, sie hat viele offensichtliche Protagonisten, die es verdient hätten, gelobt zu werden. Vielleicht Toni Kroos, der sich mit den deutschen Fans versöhnt hat. Oder die Zauberer Jamal Musiala und Florian Wirtz, die ihr riesiges Potenzial in etwas Zählbares verwandelt haben. Doch Müller wählt ausgerechnet Barça-Star Gündoğan.
Warum ist das besonders? Nun: Oft wird Thomas Müller als Sprücheklopfer verlacht, jemand, der vor allem herumblödelt. Doch in seiner langen Karriere hat der Bayern-Star ein Gespür für Stimmungen entwickelt. Etwa, wie der furiose 5:1-Auftakt gegen die schwachen Schotten einzuordnen ist: Spät nach dem Abpfiff steht er im Bauch des Stadions und diktiert den Journalistinnen und Journalisten Sätze ins Handy wie "Rückschläge kommen schneller, als man denkt" oder "Es geht nicht ums Gefühl, sondern Punkte". Also kurz: Beruhigt euch alle mal, das DFB-Team ist noch nicht Europameister.
Der stille Bessermacher
Wenn Müller also Gündoğan lobt, dann hat das einen Grund. Denn der Kapitän machte genau zum richtigen Zeitpunkt ein beeindruckendes Spiel. Dabei hätte es beinahe ein jähes, tragisches Ende gefunden. Kurz vor der Pause stockt kurz der Atem auf den Rängen in München. Ryan Porteous senst Gündoğan rüde im Sechzehner um, in der Nahaufnahme ist die Szene nichts für schwache Nerven. Der Schotte landet mit seinen Stollen auf Gündoğans Knöchel und sieht dafür die Rote Karte. Gündoğan kann jedoch weiterspielen und gibt später Entwarnung: "Alles gut. Die Bänder sind stabil. Ich hatte schon Schlimmeres."
Wie schwer sein Ausfall gewogen hätte, zeigte er wenige Minuten zuvor - beim 2:0. Es sieht einfach aus, ist jedoch hohe Kunst: Mit einer Drehung und einem Pass auf engstem Raum hebelt er die gesamte schottische Abwehr aus. Havertz ist frei durch und muss nur noch auf Musiala querlegen.
Aber es sind nicht nur solche Aktionen. Vor dem 1:0 ist es Gündoğans Laufweg, der überhaupt erst Platz für den Torschützen Wirtz schafft. Ständig scannt er in den ersten Minuten den Raum vor der schottischen Abwehr. Auch wenn der Ball gar nicht bei ihm in der Nähe ist, erwischt man ihn immer wieder beim Schulterblick: Wo steht Wirtz gerade? Wo ist Musiala? Wo ist gerade eigentlich Platz? Wie verteidigt die schottische Mannschaft? Es sind diese Szenen, die vor dem Fernseher kaum zu erkennen sind, die ihn so wichtig machen.
Das ist auch sein Job. Gündoğan bezeichnet sich selbst als Bessermacher, der seine Nebenleute strahlen lässt. Sein Spiel ist unscheinbar, es lebt von einfachen, aber entscheidenden Aktionen. Im Rollenkonstrukt von Bundestrainer Julian Nagelsmann hat er einen festen Platz: Er gehört zur Achse um Wirtz, Musiala und Kroos, die das Spiel machen sollen. Dabei sollen die beiden erfahrenen Stars von Real Madrid und dem FC Barcelona dafür sorgen, dass die beiden unbedarften Zauberer in Ruhe ihre Magie versprühen können.
"Könnte nicht stolzer sein"
Und dass Müller ausgerechnet Gündoğan lobt, liegt auch daran, dass der 33-Jährige in der Nationalmannschaft nie eine einfache Zeit hatte. Die früheren Bundestrainer konnten allesamt nicht den richtigen Platz für Gündoğan finden. Die Doppelsechs mit ihm und Kroos unter Joachim Löw funktionierte nicht und war defensiv anfällig. In seiner wilden Experimentierei stellte ihn Hansi Flick eines Tages sogar als Flügelstürmer auf. Beide Trainer wussten, dass sie den Kapitän der Triple-Mannschaft von Manchester City zwar brauchen, aber nicht, wo er hin sollte.
Und diesmal wieder. Was wurde nicht an ihm gezweifelt: Gündoğan habe seinen Stammplatz nur wegen seines Kapitänsamtes, hieß es. Er wurde sogar als "Bremsklotz" bezeichnet. Das Problem ist folgendes: Mit Gündoğan, Havertz, Wirtz und Musiala spielen bei Nagelsmann vier ähnliche Spielertypen im Zentrum. Aus der Vierreihe sahen einige Gündoğan als den Streichkandidaten, denn auf der Bank sitzt Leroy Sané, der als Flügelstürmer für Tiefe und Tempo sorgen könnte - und im EM-Verlauf mutmaßlich auch mal einen Startelfeinsatz bekommen wird.
Darauf wurde Gündoğan auf der Pressekonferenz schon vor dem Spiel angesprochen. Bei den vorherigen Turnieren gab "es immer irgendwelche Diskussionen um meine Person", erklärte er. Die Debatte, ob er nun zur ersten Elf gehöre oder nicht, sei nichts Neues für ihn. "Wenn ich sagen würde, es beschäftigt mich nicht, dann würde ich lügen", sagte Gündoğan. Es sei ein Prozess, mit dem er umgehen müsse. Und er könne das.
Doch es sind nicht nur die sportlichen Debatten. Vor der Weltmeisterschaft 2018 macht auch er ein Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, neben Mesut Özil. Gündoğan geht offen damit um, erklärt sich öffentlich. Intern sei das kein Problem gewesen, erzählte er jüngst im "Spiegel"-Interview. "Außerhalb des Teams war es aber sehr schwer für mich. Die öffentlichen Reaktionen waren zum Teil nicht einfach zu verarbeiten", sagte er.
Mit Rassismus konfrontiert
Es ist auch deshalb eine bemerkenswerte Entwicklung, dass Gündoğan die deutsche Fußball-Nationalmannschaft als Kapitän zur Heim-Europameisterschaft führt. Er selbst sprach von einem "Riesenprivileg", berichtete von seiner Geburtsstadt Gelsenkirchen und wie er dort die Weltmeisterschaft 2006 gesehen hatte. Und jetzt? "Das deutsche Team, das deutsche Volk mit Stolz vertreten zu dürfen, ist eine unfassbare Ehre", erklärte er am Donnerstagabend und strahlte dabei. Wenn er das sagt, wirkt das nicht wie eine Phrase, man nimmt es ihm ab.
Und trotzdem hat seine Rolle noch eine ganz andere Dimension. Er ist der erste DFB-Kapitän mit Migrationsgeschichte. Eigentlich sollte das Normalität in Deutschland im Jahr 2024 sein. Eigentlich. Das ist es aber nicht für alle. Vor dem Start der Heim-EM bringt eine WDR-Umfrage schmerzhafte Ergebnisse zutage. Darin gaben 17 Prozent der Deutschen an, dass sie es "schade" fänden, dass der Kapitän der DFB-Elf türkische Wurzeln habe. Das Ergebnis stimme ihn traurig, sagte Gündoğan mit dem Rassismus konfrontiert.
Es ist ein Thema, das viele hierzulande begleitet. "Ich weiß, dass es Menschen wie mich in Führungspositionen braucht, weil es eine neue Realität in Deutschland widerspiegelt", erklärte er in dem "Spiegel"-Interview. "Wir sehen vielleicht anders aus, aber wir sind auch deutsch. Ich weiß, dass ich ein Vorbild sein kann. Aber ich will das gar nicht so sehr betonen."
Stattdessen will Gündoğan andere hervorheben, so wie er es auf dem Feld macht. Wie Müller postete auch er nach dem Schottland-Spiel auf Instagram. Bei ihm sind es mehrere Fotos. Das erste Bild zeigt nicht etwa ihn allein, sondern mit einer Jubeltraube aus DFB-Stars. Und darunter steht: "Könnte nicht stolzer auf das Team sein."
Quelle: ntv.de