Kimmich klagt leise und deutlich Überraschende Belehrungen von Löw

imago1003170215h.jpg

Das erste Spiel bei der Fußball-EM verliert Deutschland gegen Weltmeister Frankreich. Das bedeutet: Im zweiten Gruppenspiel gegen Portugal hat das Team von Bundestrainer Joachim Löw Druck. Und braucht vor allem mehr Druck in der Offensive. Ein Mann aus München könnte helfen.

Noch immer ist nicht klar, was dieses Spiel gegen Frankreich eigentlich war. Ein ziemlich guter Auftritt ohne Tor (Interpretation von "Die Mannschaft"). Oder aber eine völlig chancenlose Darbietung mit nur einem Gegentor (Interpretation von ntv.de und anderen Medien). Ein Konsens über die 0:1-Niederlage des DFB-Teams im ersten Vorrundenspiel der Fußball-Europameisterschaft am Dienstagabend ist bis heute nicht erzielt. Und wird wohl auch nicht mehr erzielt werden. Der Hauptgrund: Am Abend geht's für Deutschland schon wieder auf den Platz. Es geht gegen Portugal. Nach dem Weltmeister (Frankreich) wartet nun der Europameister, schon ein ziemlich unangenehmes Auftaktprogramm. Keine Frage. Ohne dieses Spiel überhöhen zu wollen, aber es geht um ALLES! Um das Weiterkommen der Mannschaft, um die Stimmung im Land.

Kleine Einschränkung, weil wichtig: Selbst wenn Deutschland in München gegen Portugal verlieren sollte, muss das nicht das Ende bedeuten. Nicht der stumme Befehl zum Abnehmen der Fan-Utensilien von Balkonen und Autos. Wobei der Arbeitsaufwand sehr gering wäre. Denn sonderlich "verschlandet" ist das Land ohnehin nicht. Womöglich (nicht garantiert) könnte ein Sieg im abschließenden Vorrunden-Duell mit Ungarn noch reichen, um die Knockout-Phase zu erreichen. Doch dieses Szenario möchte man sich ja eher nicht vorstellen. Was wäre dann bis Mittwoch los? Ein verbales Gehacke. Ein verbales Dauerfeuer, gerichtet auf Bundestrainer Joachim Löw. Besser also für alle (Deutschen): Portugal schlagen. Tja, und damit sind wir beim Problem. Für einen Sieg braucht es mindestens ein Tor. Vielleicht sogar ein zweites, oder gar ein drittes. Denn die Mannschaft aus dem Süden Europas hat ja mit Cristiano Ronaldo einen Mann, der selten nicht trifft. Auch wenn ihm tatsächlich gegen die deutsche Nationalmannschaft noch nie ein Tor gelungen ist. Unfassbar eigentlich.

Portugal ist echt ganz schön gut besetzt

Aber Portugal ist nicht nur Cristiano Ronaldo. Hat man in den vergangenen Tagen häufig genug gelesen und auch aus dem deutschen Lager gehört. Da sind noch starke Offensivkräfte um Bruno Fernandes, Diogo Joto, Rafa Silva, André Silva und Joao Felix. Da sind zwei überragende Sechser mit Danilo Pereira sowie William Carvalho und ein herausragender Innenverteidiger mit Ruben Dias. Kleine Erschränkung (II): Beim 3:0 gegen Ungarn kam diese Qualität nach einem lange schwachen Spiel erst sehr, sehr spät zum Aufführung. Aber zurück zu Deutschland. Ein Tor muss her. So banal dieser Satz klingt, so viel Verzweiflung schwingt in ihm mit. Denn wer soll dieses Tor machen? Thomas Müller, klar, der kann so was. Serge Gnabry weiß selbstverständlich auch wie das geht. Kai Havertz, Leroy Sané, Timo Werner und Kevin Volland ebenso. Und selbst Deutschlands Sechser/Achter um Toni Kroos und Ilkay Gündogan haben in dem Bereich Kompetenzen, die international sehr geschätzt werden. Das Problem ist nicht die grundsätzliche Fähigkeit, sondern das Zusammenbringen von Aktionen, die einen Treffer möglich machen.

Gegen Frankreich waren das nicht viele. Ein Hereingabe von links auf Gnabry. Das war's dann auch schon an nachhaltigen Momenten. Ansonsten war das Spiel bemüht, aber ohne Risiko. Folglich: ohne Gefahr (stützt also die Interpretation von ntv.de und anderen Medien). Nun, Löw hat das aufgearbeitet. Mit seiner Mannschaft. Und er findet, so sagte er in einer Medienrunde am Freitag, dass ihm das gut gelungen sei. Mit der Aufarbeitung. In einem gar nicht mal so kurzen, aber dennoch knackigen Taktikseminar erklärte er den Journalisten, die sich in den vergangenen Tagen ja tüchtig an Systemdebatten abgearbeitet hatten, dass es eben nicht ums System gehe. Das ist flexibel. Variabel. Nicht starr. Es gehe vielmehr um taktische Anpassungen. Es gehe darum, bessere Räume zu besetzen - und die guten Räume besser zu besetzen. Es gehe darum, gefährliche Räume nicht sofort wieder zu verlassen. Es gehe darum, den Ball nicht so oft zurückzuspielen. Es gehe um mehr Intensität, um mehr Risikobereitschaft. Und um mehr Dynamik.

Einfach mal auf Goretzka setzen

Es geht also vor allem um Leon Goretzka. Der "Power Tower" des FC Bayern bringt ja nahezu alles mit, was sich Löw wünscht. Zudem ist er deutlich größer als seine offensiven Kollegen. Falls es mal wieder nicht mit scharfen und flachen Hereingaben klappt, sondern die Bälle in Etage eins bis zwei durch die Strafräume fliegen, wäre da zumindest ein Mann, der diese erreichen könnte. "Klar", sagte der Bundestrainer, Goretzka sei natürlich eine Option. Aber nicht für 90 Minuten. Die fünf, sechs Wochen ohne Spielrhythmus würden das nicht möglich machen (er war verletzt). Zum Einsatz kommen wird er aber, diese mutige Prognose darf man aus den Sätzen des Trainers herauslesen.

Aber gut, noch ist der "Fall Goretzka" in der Priorität nicht zur nationalen Angelegenheit hochgestuft worden. Diesen Platz nimmt nach wie vor der "Fall Kimmich" ein. Dessen Versetzung aus dem Zentrum nach rechts war gegen Frankreich keine Überraschung. Weil im Zentrum zu viel Qualität herrscht, auf der Außenbahn eher nicht. Und man war sich ja vermutlich weltweit einig, dass der Kimmich beide Positionen auf höchstem Niveau spielen kann. Diese These ist zumindest vorübergehend widerlegt. Ob das nun an der Position lag, oder daran, dass der 25-Jährige tatsächlich mal nicht so richtig gut spielte? Auch darüber wurde bislang kein Konsens erzielt.

Der Protagonist selbst hat am Freitagabend in dem medialen Taktiksemisar (er kam nach Löw auf das Podest) zumindest einen kleinen Beitrag zur Aufklärung geleistet: "Was mir in der Mitte sehr viel Spaß macht: Man hat immer den Eindruck, dass man Einfluss nehmen kann, da fühlt man sich mehr eingebunden als auf der rechten Seite - auch, was die Kommunikation angeht. Man ist jederzeit Teil des Spiels." Rechts sei vielmehr oft Geduld gefragt, "man ist abhängig davon, ob man angespielt wird. Auf der Sechs kann ich den Ball mal hinten abholen, rechts außen nicht." Mehr subtile Klage, mehr subtile Bitte geht wohl nicht. Und was nun? Der Bundestrainer hat zumindest mal erklärt, dass er mit der Defensive gegen Frankreich sehr zufrieden war, Anpassungen plane er daher nicht. Also Dreierkette, also Kimmich weiter auf der Seite? Vermutlich.

Leroy Sané muss es richten

Dabei soll es in den vergangenen Tagen durchaus Versuche aus der Mannschaft gegeben haben, den Trainer von einer anderen Ausrichtung zu überzeugen. Medien behaupten das, der DFB das Gegenteil. Konsens ist: Es gab Gespräche nach und über das Frankreich-Spiel. So soll der Bayern-Block für den Bayern-Block geworben haben. Im Mittelfeld könnte sich das dann so darstellen: Kimmich und Goretzka (auch als spätere Option für Gündogan oder Kroos) auf der Sechs, davor Thomas Müller, flankiert von Serge Gnabry und Leroy Sané. Ja, Sané. Als Mann für Havertz. Eventuell rückt Havertz dann auch ins Sturmzentrum. Kann er spielen. Ebenso wie Timo Werner. Der ist zwar kein klassischer Mittelstürmer, kennt sich mit Dynamik und Intensität aber aus. Zurück zu Sané. Der will bei dieser EM ja zeigen, was er kann. Dass er mit seiner Klasse im Duell Spiele entscheiden kann. Ein erster Nachweis gegen Portugal wäre der vermutlich allerbeste Zeitpunkt seiner bisherigen DFB-Karriere.

Für diese Variante müsste Löw indes eine kleine Revolution starten. Die Abwehr umbauen und das Mittelfeld gegen seine Begeisterung für Kroos und Gündogan neu besetzen. Und Gündogan wäre dann wohl der Mann, den es treffen würde. Denn so beeindruckend der Klub-Gündogan ist, so wenig beeindruckend war wieder einmal der DFB-Gündogan. Auch wenn er seine Rolle im Zentrum durchaus solide erledigt hatte. Aber eben nicht mehr. Was er doch eigentlich kann.

Nun also, nach dem Portugal-Spiel, wird wieder gesprochen. Im Falle eines Sieges wird man sich einig sein. Man wird sich freuen. Schöne Sache. Ein paar kritische Worte werden sicher auch gefunden. Aber erstmal aufatmen. Im Falle einer Niederlage wird man sich auch einig sein. Aber niemand wird sich freuen. Es wird unangenehm. Es wird um Löw gehen. Und um seine Erbe. Aber eine Bitte: Falls vorhanden, Fan-Utensilien nicht wegräumen. Es geht ja so oder so noch gegen Ungarn. Und dann vielleicht sogar noch ein bisschen mehr um ALLES. Das klingt absurd.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen