
Lionel Messi arbeitet an seinem letzten großen Traum als Fußballer.
(Foto: AP)
Ein Sieg des Wollens und Messi "en modo D10S", im göttlichen Maradona-Modus. So überwältigte Argentinien im vogelwilden Viertelfinale die Niederlande. So könnten sie auch Vizeweltmeister Kroatien überwinden.
Eine sehr gute WM ist es für Argentinien jetzt schon. Mit einem Sieg im Halbfinale gegen Vizeweltmeister Kroatien könnte sie bereits legendär werden, und danach, womöglich gegen Titelverteidiger Frankreich, zur Krönung. Superstar Lionel Messi hat sich in seinem womöglich letzten Frühling gespielt, sein Kompagnon Ángel "Engelchen" di Maria ist für die vorletzte Partie in Katar wieder fit, auch Mittelfeldmotor Rodrigo de Paul läuft wieder runder.
Aber das Wichtigste für die Albiceleste sind diese Emotionen, die auch moralische Sorgen um das Turnier in Katar verdrängen und ignorieren: dieser Wille, auch von gefühlten Ungerechtigkeiten getriebene Wut, welche die Mannschaft offenbar zusammenschweißen. Die Medien zu Hause kritisierten das Verhalten von Messi und Kollegen beim großen Viertelfinalkampf gegen die Niederlande nur kurz. Seither dominiert Euphorie über die Mannschaftsleistung sowie des weiterhin präsenten Diego Maradona in anderer Gestalt.
"Mehr denn je verkörpert Messi den Geist von Maradona", urteilt etwa ein Autor in "La Nación". Damit ist mehr als nur die 10 gemeint, oder dass Messi die zentrale Figur ist, die mit ihren 35 Jahren wie Maradona körperliche Explosivität nun auch mit spielmacherischer Kreativität kombiniert. Es geht um Messis Charakter und damit auch der Mannschaft, die sich gewandelt habe, weil die Nummer 10 nach gescheiterten Spielzügen oder Tricks nicht mehr den Kopf hängen lasse, sondern weiter vorangeht. Im Zweifel auch etwas dreckig - und immer mit Emotionen. Die Wut als Antrieb nutzend. So wie früher "D10S", der Gott der 10er.
Derweil läuft die Meme-Maschine am Rio de la Plata wie immer hochtourig, etwa mit Messis Spruch "Andá p'allá, bobo", "Geh wieder dahin, wo Du herkommst, Dummkopf", in Richtung des niederländischen Doppeltorschützen Wout Weghorst. Es gibt auch Merchandise damit zu kaufen, sogar Songs. Auf einem anderen ist Bart Simpson mit Blindenbrille zu sehen, der den ungeliebten Schiedsrichter bei Fouls der Niederländer zeigen soll. Die Memes und Medien repräsentieren gut das Gefühl, das vorherrscht bei jenen, mit denen man in Buenos Aires spricht. Nicht sauber zwar, aber was juckt es uns, wenn das Ergebnis zählt? Wir haben uns durchgesetzt.
Ein bisschen wie Deutschland
Ist Argentinien damit ironischerweise nicht ein wenig wie Deutschland vor 2006? Sprach jemand nach den Spielen der DFB-Elf früher so viel über die Art und Weise? Mit Körperlichkeit, Willen, Kratzen und Beißen, und seltenen, aber chirurgischen Momenten, die am Ende spätestens dann zum Erfolg führten, wenn es ins Elfmeterschießen ging.
In der argentinischen Presse wird das Viertelfinale gegen die Niederlande ebenso besungen, als großer Sieg des Wollens und mit der nötigen Aggressivität, um den wild gewordenen Gegner zu überwinden. Deren Nummer 4 etwa, Kapitän Virgil von Dijk hätte nach seinem Bodycheck eine Rote Karte sehen müssen! Dann wäre es womöglich gar nicht zu dem letzten Freistoß gekommen, der Oranje den Ausgleich brachte. Warum wurde Weghorst eigentlich nach seinem Check gegen Messi im Mittelfeld nicht mit Gelb-Rot vom Platz geschickt?
Auch die zahlreichen Rudelbildungen, so die gefühlte Mehrheitsmeinung, die gingen vor allem von der niederländischen Bank aus. Im Elfmeterschießen gingen niederländische Spieler noch auf die argentinischen Schützen los, um sie zu beeinflussen. Und der spanische Schiedsrichter, so berichten es argentinische Spieler, hätte die Akteure der Albiceleste auf dem Feld gar beleidigt. Und so wird empfunden, dass getan wurde, was getan werden musste, um zu gewinnen: Dagegen halten. Der argentinische Torwart etwa sagte nach dem Spiel, der Schiedsrichter habe unbedingt gewollt, dass die Niederländer ein Tor schießen. Weghorst hatte es in Minute 90+11 mit einer überraschenden Freistoßvariante erzielt.
Das vorherige Mal in einem WM-Elfmeterschießen weitergekommen war Argentinien bei der WM 2014 in Brasilien, ebenfalls gegen die Niederlande - um im folgenden Finale auf Deutschland zu treffen. Ohnehin, Deutschland, das ist ein brisantes Thema in Argentinien. Da wäre etwa der nicht gegebene Strafstoß im Finale 1990 für Argentinien, als Lothar Matthäus foulte, und danach das Geschenk an Deutschland gegen sie, als Völler gefallen war. Aber vor allem in Erinnerung ist das Trio der Tränen: 2006 im Viertelfinale an Deutschland gescheitert. Vier Jahre später in Südafrika von Joachim Löws dynamischer Generation mit 0:4 vom Platz gefegt, obwohl dort Messi sowie Maradona an der Seitenlinie standen.
Und dann 2014, als Manuel Neuers Faustabwehr und sein Kniecheck gegen Gonzalo Higuaíns Gesicht ungeahndet blieben. Stattdessen: Freistoß für Deutschland. "Er bringt ihn fast um!", beschwerte sich der argentinische Fernsehkommentator damals. "Das ist Strafstoß, nichts anderes." Fast am Ende der Verlängerung trifft stattdessen Mario Götze die Albiceleste ins Herz, wieder bekommt Deutschland den Pokal. Es sind Traumata, die sich ins kollektive Fußballgedächtnis gebrannt haben, als wären sie gestern geschehen.
Gegen die Sterilität
Das gewonnene Viertelfinale gegen die Niederlande hat den Argentiniern auch deshalb Hoffnung gegeben, weil die Partie an früher erinnerte. Wie bei der WM 1986 in Mexiko, als - ebenfalls die Deutschen - mit 3:2 im Finale überwältigt wurden. Der Spielverlauf: Eine beruhigende argentinische 2:0-Führung bis zur 74. Minute, die deutschen Tore zum Ausgleich innerhalb von sechs Minuten, und dann ein Moment von Maradona, der in der 83. Minute auf Jorge Burruchaga passt, der allein vor Toni Schumacher vollstreckt.
Der Spielverlauf zum Halbfinaleinzug gegen Kroatien: Ein großer Moment des Spielmachers reicht für die Führung, ein Elfmeter (ohne VAR!), verwandelt die 10 spielerisch sicher. Messi revanchiert sich für eine Lästerei des niederländischen Trainers Louis van Gaal vor der Partie, legt danach die Hände an die Ohren in Richtung seiner Bank, als wolle er sagen: "Und was sagst Du jetzt?" Wieder war es eine vermeintlich beruhigende 2:0-Führung. Doch es brach die Hölle los. Argentinien siegte trotzdem.
Ein Unterschied zu früher war: Das äußerst hitzige Duell lief vor unzähligen Kameras ab, von der Seite, aus der Luft, von technischen Hilfsmitteln und dem Videoschiedsrichter überwacht. Der VAR vermittelt das Gefühl, dass alles auf den Millimeter genau messbar sei, bestrafbar, unter Kontrolle; dass Elfmeter gegeben werden, die früher ins Reich der Fußballfabeln gehörten; von oben bestimmt wird, was schon mit der korrupten Vergabe des Turniers begonnen hat. Und das alles kombiniert mit der nachwirkenden Sterilität der Wettbewerbe in Zeiten von Corona.
Argentinien und die Niederlande haben dieses Gefühl ignoriert und sich für den wilden Fußball entschieden. Er existiert damit nachweislich auch noch auf Top-Niveau. Und nun? Kroatiens Trainer Zlatko Dalic sagte über den Gegner und dessen Viertelfinale: "In manchen Momenten gab es Verhaltensweisen, die nicht viel mit Fußball zu tun hatten. Ich hoffe, dass es in unserem Fall nicht dazu kommt." Hoffen hilft häufig nicht, auszuschließen sind Emotionen nie. Und diese stolze Wut über die gefühlten Ungerechtigkeiten der Vergangenheit, sie dürfte bei den Argentiniern auch diesmal mitspielen.
Quelle: ntv.de