Tore, Dramen, irre Wendungen Die 60 verrücktesten Fußball-Minuten dieser WM

Das zweite Viertelfinale ist 73 Minuten lang eine klare, eine beinahe langweilige Angelegenheit. Doch dann kippt diese Partie und diese WM erlebt ihre atemberaubendsten Minuten. Tor, Dramen, Rudelbildungen, wilde Wendungen. Was für ein Spiel!

Um kurz nach Mitternacht hatte der Fußball für einen kurzen Moment über diese Weltmeisterschaft triumphiert. Um kurz nach Mitternacht holte sich der Fußball für einen kurzen Moment das zurück, was ihm von der FIFA und Katar genommen worden war. Im Lusail Iconic Stadium eskalierten die Emotionen, auf so eine ehrliche, auf so eine herrliche Weise, wie es vielleicht nur der Fußball in dieser Intensität kann. Die Welt der Argentinier brach in sich zusammen, während die Niederländer in der elften Minute der Nachspielzeit überhaupt nicht wussten, wie und wo sie ihre Gefühle kanalisieren sollten. Wout Weghorst hatte mit dem vielleicht listigsten Freistoß der WM-Geschichte auf 2:2 gestellt. Er hatte den WM-Traum seines Teams wuchtig angezündet und gleichzeitig hatte er die Glut der Südamerikaner mit seiner kleinen Genialität ausgetreten. Die pure Essenz des Fußballs.

Wer hätte das gedacht? Bis zur 78. Minute ging das Spiel einen entspannten Gang. Die Argentinier lagen nach Toren von Nahuel Molina (35.), zauberhaft freigespielt von Lionel Messi, und dem großen Meister selbst (also Messi, 73.) per Elfmeter mit 2:0 in Führung. Nichts deutete darauf hin, dass in diesem Viertelfinale noch die gigantischen Emotionen, das große Drama und auch die hässliche Seite des Fußballs lauern würde. Von dem größten Schock bekamen die Aktiven und auch die meisten Fans derweil gar nichts mit. Der bekannte US-Journalist Grant Wahl brach in der ersten Halbzeit der Verlängerung zusammen und starb wenig später. Laut "Wall Street Journal" hat er einen Herzinfarkt erlitten (der Kollege Stephan Uersfeld hat die Hintergründe hier aufgeschrieben).

Der Knuffelige hat eine gute Idee

Das Spiel hatte sich derweil eine kleine Pause gegönnt, offenbar selbst überrascht von der brutalen Intensität der vorangegangenen Minuten. Hatte Messis Elfmeter nach einem strunzdummen Foul von Denzel Dumfries nicht alles entschieden? Die Niederlande hatten bislang keinen Schuss aufs Tor gebracht. Wie sollte das Ende der Legende Louis van Gaal noch aufzuhalten sein? Der niederländische Coach, der in diesen Tagen als knuffeligster Trainer der WM eine schöne Geschichte nach der anderen erzählt hatte, würde nach der WM aufhören. Auch weil ihm eine Krebserkrankung zugesetzt hatte, hat er frühzeitig verkündet, dass nach Katar Schluss ist. Die (geniale) Idee gegen das Ende: Wout Weghorst. Er kam in der 78. Minute, Sekunden zuvor hatte sich Emiliano Martínez im Strafraum eine Flanke aus der Luft gepflückt und dabei zwei Spieler abgeräumt - hitzige Stimmung, Rudelbildung. Auch ein kolossaler Flitzer hatte sich aufgemacht, er wurde schnell gestoppt. Wild, es war wild.

Dann kam Weghorst. Wie ein Magnet zog er seine Mitspieler mit in den Strafraum. Wie ein Magnet zog er die Bälle an. Steven Berghuis flankt von der rechten Seite, der ehemalige Wolfsburger steigt hoch - 1:2, Hoffnung. Der Stürmer ist so heiß, dass er Messi Sekunden nach dem Anstoß umhaut. Glück für ihn, dass er kein Gelb sieht. Die hatte er sich in der ersten Halbzeit als Bankspieler schon eingefangen. Er hatte gemeckert. Der Fußball entfaltete nun seine ganze Kraft, seine ganz Faszination. Und ja, der Fußball entfaltete dieses Mystische, das einfach nicht zu erklären ist. Die lange verzweifelte Elftal strotzte vor Selbstvertrauen, Gier und Mut. Das stolze Argentinien verkümmerte zu einem Panikorchester. Keine zwei Minuten nach dem Anschlusstreffer schoss Berghuis den Ball ans Außennetz. Alles scheint möglich. Südamerika drohte der ultimative Alptraum!

Paredes rastet aus, Rudelbildung

Wenige Stunden zuvor waren die Brasilianer um ihren Superstar Neymar unter hemmungslosen Tränen aus dem Turnier geschieden. Im Elfmeterschießen waren sie am kroatischen Hexer Dominik Livaković fatal gescheitert. Der Traum vom Halbfinal-Clasico war geplatzt, die Schönheit des Spiels von der Gier der Südosteuropäer gefressen worden. Nun wankte Argentinien, nun drohte die letzte große Reise von Messi auf groteskeste Weise gestoppt zu werden. Und nicht nur Argentinien wankte, das ganze Spiel war außer Kontrolle. Die Dynamik dieser Minuten ist nicht in Wort zu fassen - es sind die atemberaubendsten dieses Turniers. In der 89. Minute schießt Leandro Paredes den Ball in Richtung der niederländischen Bank, Rudelbildung. Mehrere Spieler gehen zu Boden. Ein rotwürdiger Bodycheck des niederländischen Kapitäns Virgil van Dijk wird nicht geahndet. Der Schiedsrichter hat längst keinen Zugriff mehr. Am Ende dieses hitzigen, mitreißenden und faszinierenden Duells stehen 17 Gelbe und eine Gelb-Rote Karte in der Statistik, WM-Rekord.

Drei Minuten ist das Spiel über der Zeit, als Berghuis die riesige Chance auf den Ausgleich hat. Aus 19 Metern schlenzt er einen Freistoß aber nur in die Mauer. Argentinier schreien sich die Erleichterung auf den Tribünen aus den Knochen. Die Siegesgesänge werden immer lauter, sie erschüttern das mächtige Lusail Iconic Stadium mit ihren 88.325 Zuschauern. Eine bebende Hymne erfasst Katar. Aber das Spiel ist nicht vorbei.

Wie einst gegen Arminia Bielefeld

In der zehnten Minute der Nachspielzeit schubst Germán Pezzella Weghorst 20 Meter vor dem eigenen Tor um. Wenn wir über dumme Fouls reden, war das eines der dümmsten. Und wurde mit List und Klasse gnadenlos bestraft. Wie ein Moment alles, wirklich alles, verändern kann! Berghuis, der sieben Minuten zuvor aus bester Lage vergeben hatte, spielt in der Freistoß-Verlosung nun nicht mehr mit. Die, die jetzt in der Verantwortung sind, entscheiden anders. Statt den Freistoß direkt auszuführen, spielt Teun Koopmeiners unter der hüpfenden Mauer hindurch einen Pass auf Weghorst, der den Ball brillant annimmt und aus elf Metern im rechten Eck versenkt - unfassbar! Das Maximum an Euphorie und Erschütterung verdichtet in einem Moment. Schon vor zwei Jahren hatte der Stürmer, der mittlerweile bei Besiktas Istanbul spielt, Arminia Bielefeld auf diese Weise blamiert. Damals nach 20 gespielten Minuten, nicht mit der letzten Szene in einem WM-Viertelfinale.

Weit abseits dieser wilden Sekunden und Szenen im argentinischen Strafraum hockt der niederländische Torwart Andries Noppert nahe der Mittellinie. Um ihn herum eine himmelblaue Wand, unter ihm der grüne Rasen des Lusail und irgendwo in weiter Ferne der Rest. Andries Noppert, 28 Jahre, 2,03 Meter groß, fünf Länderspiele. Debüt bei der WM in Katar. Was für eine Geschichte, früher Kettenraucher, Trinker, zwischendurch arbeitslos - und nun in Gedanken verhaftet irgendwo zwischen seiner irren Karriere und der Hoffnung auf das Wunder.

Van Dijk leitet das Scheitern ein

Wieder hinein in den Trubel: Alles scheint nun möglich, Fußball in seiner pursten, in seiner schönsten Variante. Und als die Partie auf das Duell vom Punkt zusteuert, raffen sich die emotional überforderten Argentinier noch einmal mächtig auf. Einen Schuss von Lautaro Martinez fälscht Virgil van Dijk gerade noch so ab. Dann scheitert Enzo Fernandez zweimal, zunächst landet ein Versuch auf dem Tordach, dann pariert Noppert weltklasse. Dann Elfmeterschießen, keine Atempause. Van Dijk übernimmt als Kapitän Verantwortung - und scheitert. Messi trifft souverän. Anders als bei den Brasilianern am Nachmittag treten hier direkt die Stars an. Was für ein Showdown. Auch Berghuis vergibt, wieder war Martinez dran. Als Fernandez als vierter Argentinier zum ersten Mal auslässt, keimt Hoffnung auf - doch Noppert ist gegen den finalen Versuch von Martinez chancenlos, 4:3, Ekstase.

Am Mittelkreis fallen die Argentinier derweil mit hässlichen Häme-Gesten über die Niederländer her. Sie rennen in ihr Glück, sie rennen ihrem Traum entgegen. Messis letzte Reise geht weiter, was für eine Zwischenstation. Der Fußball, und mit ihm der vielleicht beste Spieler aller Zeiten, hatten sich an diesem surrealen Abend die von so vielen Skandalen erschütterte WM zurückerobert.

(Dieser Artikel wurde am Samstag, 10. Dezember 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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